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Wenn Hochleistung krank macht

Eine Kuh gibt heute bis zu sechsmal mehr Milch als vor 100 Jahren.

Eine Kuh gibt heute bis zu sechsmal mehr Milch als vor 100 Jahren.
Bildquelle: iStock

An der Freien Universität Berlin erforschen Veterinärmediziner die physiologischen Grenzen von Milchkühen

von Holger Martens und Jörg Luy

Ob als Butter, Käse oder pur – Milch und Milchprodukte erfreuen sich bei den Verbrauchern immer größerer Beliebtheit. Doch die gestiegene Nachfrage nach dem gesunden Lebensmittel hat auch ihre Schattenseiten. Durch Tierzucht und spezielle Ernährung gibt eine einzelne Kuh heute bis zu sechsmal mehr Milch als noch vor 100 Jahren. Eine Hochleistung, die die Tiere krank machen kann, wie Untersuchungen am Fachbereich Veterinärmedizin der Freien Universität Berlin zeigen. Gab eine Kuh zu Beginn des 19. Jahrhunderts weniger als 1000 Liter im Jahr, waren es um 1900 etwa 2000 und 1960 schon 4000 Liter. Heute sind Laktationsleistungen – also Milchabgaben pro Jahr und Tier – von 8000 bis 12 000 Litern nicht ungewöhnlich. Die Zunahme der  Milchproduktion ist allerdings verbunden mit einer kürzeren Lebensdauer der Kühe, sodass sich die Lebensleistung der Tiere insgesamt nicht oder kaum erhöht  hat. Die 20 000 Liter Milch, die eine Kuh in den fünfziger Jahren in einem Zeitraum von fünf Jahren gegeben hat, „produzieren“ Brandenburger Kühe heute in der Hälfte der Zeit.

Viele der Tiere sind dann bereits „verbraucht“. In Deutschland scheiden bis zu 40 Prozent der Kühe eines Betriebes pro Jahr aufgrund unterschiedlicher Erkrankungen nach durchschnittlich zweieinhalb Laktationen aus der Produktion aus. Es gibt aber auch Tiere, die vier bis fünf  Jahre lang hohe Milchleistungen erbringen – und das bei guter Gesundheit. Die physiologischen Grundlagen dieser Leistungsfähigkeit sind noch unbekannt.

Eine hohe Milchproduktion verursacht oft Erkrankungen

Häufig verursacht die enorme Milchproduktion jedoch vermehrt Störungen der Fruchtbarkeit sowie Entzündungen des Euters, der Klauen und der Gebärmutter, Leberverfettung und Erkrankungen des Verdauungssystems. Untersuchungen am Institut für Veterinär-Physiologie der Freien Universität Berlin haben jetzt gezeigt, dass es offensichtlich Verbindungen zwischen diesen Erkrankungen und dem Energiestoffwechsel der Kühe gibt. Denn der Stoffwechsel von Hochleistungskühen läuft auf Hochtouren, wie das Beispiel eines Tieres mit einer nicht ungewöhnlich hohen Milchproduktion von 40 Litern pro Tag zeigt. Mit dieser Milchmenge scheidet die Kuh etwa 1600 Gramm Butterfett, 1800  Gramm Milchzucker, 1200 Gramm Protein  und 40 Gramm Calcium aus. Die Substrate  für diese Milch-Inhaltsstoffe werden dem Blut entnommen. Pro Liter Milch müssen dafür 500 Liter Blut durch das Euter fließen. 

Um das zu leisten, muss das Tier täglich etwa 23 bis 24 Kilogramm Futter als Trockenmasse aufnehmen. Die mikrobielle Verdauung in den Vormägen führt zu einer Freisetzung von etwa sieben bis acht Kilogramm kurzkettiger Fettsäuren und von über 1000 Liter Gas, davon 60  bis 70 Prozent Kohlendioxid und 30 bis 40 Prozent Methan. 
Auch die Leber muss Großes leisten für eine tägliche Produktion von 40 Litern Milch. Sie setzt etwa drei Kilogramm Traubenzucker um für die Bildung von Milchzucker im Euter und produziert etwa 600 Gramm Harnstoff.  Weil die Kühe gar nicht so viel fressen können, um diese gigantische Leistung  zu erbringen, hat man bereits die Energiedichte  der Rationen erhöht. Doch trotz des besonders kalorienreichen Futters ergibt sich gerade zu Beginn der Laktation eine negative Energiebilanz. Sie setzt schon vor der Geburt des Kalbes ein, kann sich nach der Geburt über mehr als 100 Tage erstrecken und zu Gewichtsverlusten von über 100 Kilogramm bei einem ursprünglichen Körpergewicht von etwa 700 Kilogramm führen. Um die Milchmenge zu produzieren, muss die Kuh alle Körperreserven mobilisieren. Diese Fokussierung des Stoffwechsels auf die Milchproduktion geht zu Lasten fast aller anderen physiologischen Leistungen. 

Die negative Energiebilanz ist ein Risikofaktor, zunächst für die Leistung und dann für die Gesundheit der Tiere. Denn um die Energie für die Milchproduktion aufzubringen, baut der Körper des Tieres Fettgewebe und Muskeleiweiß ab. Die Folge: Im Blut wird die Konzentration von freien Fettsäuren erhöht, die zum Teil von der Leber aufgenommen und dort als Triglyzerid-Fette wieder eingelagert werden – mit der Folge einer Leberverfettung  und möglichen Störung des Leberstoffwechsels. Wie beim Menschen kann es zu einer Insulinresistenz vom Diabetes Typ 2 kommen, der wiederum  mit chronischen Entzündungsprozessen verbunden ist. 

Tierärzte sollten sich deshalb vorrangig darum bemühen, die Energiebilanz auszugleichen. Am Institut für Veterinär-  Physiologie der Freien Universität  Berlin laufen zurzeit Versuche, die Resorptionskapazität in den Vormägen der Kühe zu erhöhen und damit eine bessere Futterverwertung zu erreichen. Darüber hinaus untersuchen die Wissenschaftler die physiologischen Parameter von „Super- Kühen“, die trotz hoher Milchproduktion nur eine geringfügige negative  Energiebilanz aufweisen.

Züchter, Halter, Verbraucher: Sie alle müssen umdenken

Für einen großen Teil der Milchkühe lässt sich wissenschaftlich belegen, dass sie die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit erreicht haben, weil die Tiere schon sehr jung aufgrund von leistungsbedingten  und schmerzhaften Erkrankungen aus der Produktion ausscheiden. Die Leistungssteigerung bedingt somit einen fragwürdigen Fortschritt. Um unnötiges Leiden der Tiere zu vermeiden, ist nicht nur ein Umdenken bei Züchtern und Tierhaltern erforderlich, sondern auch beim Verbraucher. Er  muss bereit sein, für Milch und Milchprodukte aus tierschonender Produktion einen etwas höheren Preis zu zahlen - zum Wohl der Tiere. 

Professor Holger Martens ist Direktor des Instituts für Veterinär-Physiologie an der Freien Universität.
Professor Jörg Luy ist Juniorprofessor für Tierschutz.