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Platons moderne Schülerin

Neu an der Freien Universität: Die Altphilologin Gyburg Radke

Neu an der Freien Universität: Die Altphilologin Gyburg Radke
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Gyburg Radke ist die jüngste Leibnizpreisträgerin und neue Professorin für Altgriechisch

Von Kerrin Zielke

Sie gehören zu den Besten ihres Fachs: Renommierte Wissenschaftler aus dem In- und Ausland folgen gern dem Ruf der  Freien Universität Berlin, um hier zu lehren und zu forschen. In einer Serie stellen wir Ihnen einige der „Neuen“ vor. Lesen Sie heute über Gyburg Radke, jüngste Leibnizpreisträgerin und Professorin für Gräzistik. Sie gilt als Senkrechtstarterin der deutschen Geisteswissenschaften, seit ihr 2006 im Alter von 30 Jahren der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis verliehen  wurde. Gyburg Radke ist damit die Jüngste unter den Preisträgern der höchstdotierten deutschen Forschungsauszeichnung. 

Die Altphilologin hat schon immer Tempo vorgelegt: Mit 24 Jahren erlangte sie in Marburg ihren Magisterabschluss in Griechisch, Latein und Archäologie, ihre Promotion schloss sie als Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes innerhalb von 15 Monaten ab, und mit 27 Jahren folgte die Habilitation. Nach diesem rasanten Start verbrachte sie ein Forschungsjahr an der Harvard-Universität als Stipendiatin der Alexander-von-Humboldt-Stiftung. Zurück in Deutschland, lehrte sie als Privatdozentin Klassische Philologie in Marburg, Heidelberg und Münster.

Seit Herbst 2007 ist Gyburg Radke Professorin für Gräzistik am Institut für Lateinische und Griechische Philologie der Freien Universität Berlin. Man könnte meinen, das Interesse an alten Sprachen sei ihr in die Wiege gelegt worden: Gyburg Radkes Mutter ist Lateinlehrerin – und verfasst Gedichte auf Lateinisch –, ihr Vater lehrte als Professor mittelalterliche Germanistik. Alte Sprachen und Literatur waren in ihrer  Kindheit deshalb kein ungewöhnliches Gesprächsthema am heimischen Küchentisch in Marburg. Auch ihren Vornamen verdankt Gyburg Radkedem Forschungsinteresse ihrer Eltern: Kurz vor ihrer Geburt editierte ihr Vater den „Willehalm“, eine Erzählung in Versen des mittelalterlichen  Dichters Wolfram von Eschenbach. Gyburg Radke trägt den Vornamen der weiblichen Hauptfigur, ihr Bruder heißt Wolfram wie der Dichter selbst. 

Das Abitur legte sie mit einem Durchschnitt von 1,0 ab

Trotz der Prägung durch ihr Elternhaus stand es allerdings für Gyburg Radke nicht von vornherein fest, dass sie alte Sprachen studieren würde. In der Oberstufe wählte sie als Leistungskurse  Mathematik und Musik. „Cello und Gesang  waren während meiner Schulzeit eine Hauptbeschäftigung. Von den Fächern war ich an allen möglichen interessiert, zum Beispiel fand ich auch die Naturwissenschaften spannend“, sagt die  32-Jährige mit Blick auf ihre Schulzeit. Ihr Abitur legte sie mit einem Notenschnitt von 1,0 ab – und entschied sich schließlich doch für ein Studium geisteswissenschaftlicher  Fächer. „Ich wollte mit alten Sprachen und Archäologie an den Wurzeln beginnen – bei den Grundlagen für alles Spätere“, erläutert Radke ihre Wahl. Deshalb beschränkt sie sich auch nicht auf ihren antiken Gegenstand, sondern stellt immer wieder Bezüge zur jüngeren Vergangenheit her.

So begründete die Deutsche Forschungsgemeinschaft die Zuerkennung des Leibnizpreises mit Radkes Fähigkeit, antike Themen  in größere kulturgeschichtliche Zusammenhänge zu stellen. Gewürdigt wurde auch Radkes Verbindung von Philosophie und Literatur – zwei Felder, die in der heutigen Altertumskunde meist getrennt behandelt werden, die aber bei der Begründung des Fachs im 18. und 19. Jahrhundert eine Einheit bildeten. 

Mit ihrem synthetischen Ansatz will Gyburg Radke ihr Fach in die Mitte der Geisteswissenschaften zurückholen: „In den vergangenen 50 Jahren hat sich die Klassische Philologie weitgehend zurückgezogen aus zentralen literaturwissenschaftlichen Fragen, und die entscheidenden Impulse kommen aus der Komparatistik, der Anglistik, der Germanistik und der Romanistik“, sagt Gyburg Radke. Einige Wissenschaftler hätten sich als Vertreter einer historischen Wissenschaft in einem ausschließenden Sinn verstanden mit der These, die Antike habe eine ganz andere Form der Literatur und der Rezeption hervorgebracht, die mit modernen Formen schlechthin nicht vergleichbar sei.

„Ich betreibe Altertumswissenschaft nicht aus antiquarischen Gründen, sondern aus Interesse an der Gegenwart“, sagt Radke. „Wir können die Moderne nur verstehen, wenn wir das Bild der Antike nachvollziehen, denn in Abgrenzung zu diesem Bild hat sich die Moderne entwickelt.“ Diese Erkenntnis verdankt Gyburg Radke ihrem akademischen Lehrer und Doktorvater an der Universität Marburg,  Arbogast Schmitt. Dieser habe ihre wissenschaftliche Entwicklung entscheidend  geprägt: Sie legte ihren Schwerpunkt auf die Philosophie Platons und  Aristoteles und entwickelte den Ehrgeiz, die Bedeutung der antiken Literatur, Philosophie und Wissenschaft für die Gegenwart zu zeigen. 

Diesem Anspruch ist die Wissenschaftlerin  in mehreren Monographien nachgegangen: über Platon und Aristoteles, Homer, die Lyrikerin Sappho, die griechische  Tragödie und die Philosophie  der Spätantike. Auch in ihrem jüngsten Buch über hellenistische Dichtung stellt Gyburg Radke Bezüge zwischen Antike und Moderne her und zeigt erstaunliche Parallelen zwischen den Literaturen. Der Hellenismus reicht vom Regierungsantritt  Alexanders des Großen 336 v. Chr. bis zur Integration des letzten hellenistischen  Reiches Ägypten in das Römische Reich 30 v. Chr. In der modernen Literaturkritik  wurde die hellenistische Dichtung häufig als epigonal bewertet, als unbedeutende  Nachahmung der großen  klassischen Vergangenheit, der Dichtung von Homer und der griechischen Tragödie von Sophokles oder Euripides. 

Im Hellenismus aber sei erstmals eine Gruppe Dichter mit dem Anspruch aufgetreten, eine gänzlich neue Dichtung zu schaffen, sagt Gyburg Radke. Zwar bevölkern wie in der klassischen Zeit Götter  und Helden der griechischen Mythologie  die Dichtung des Hellenismus, zeigen das Leben des Zeus und den Kampf des Achill. Doch geht Radke der Obsession  dieser spätantiken Schriftsteller für die frühe Zeit in der Mythologie und für die  Kindheit der Götter und Helden nach.  Ein großer Teil der Dichtung zeige diese nicht auf der Höhe ihrer Kraft und im Glanz ihrer Taten, sondern bei ihrer Geburt und als kleine Kinder. Traten in der klassischen Dichtung Götter als Kinder auf, so waren sie schon im Besitz ihrer Kräfte. Bei den hellenistischen Dichtern hingegen sind sie bedürftig und bloß. 

„Die Kindheitsdarstellungen sind sehr radikal in allen körperlichen und sinnlichen Aspekten – das gab es zuvor überhaupt  nicht als zentrales Motiv“, sagt  Radke. „Die Dichter wählen frühe Themen, um sich gegen den Vorwurf zu wehren, späte Dichter zu sein.“ Indem die Dichter beschreiben, wie sich der Kosmos bildet und wie die Götter geboren werden, erheben sie den Anspruch, die Geschichte neu zu schreiben, führt  Radke aus. Und erfinden so die Literaturgeschichte – indem sie die Tradition zur Vergangenheit erklären. Ähnliche Phänomene  der Rückbesinnung auf Kindheit  und frühe Zeiten seien auch in der Moderne auszumachen, zum Beispiel in der romantischen Literatur. Die Romantik war wie der Hellenismus eine Epoche,  die auf eine als übermächtig empfundene klassische Zeit folgte. Und wie im Hellenismus die Literaturgeschichte aus der Taufe gehoben wurde, so gelten die Romantiker Friedrich und August Wilhelm Schlegel als Erfinder der modernen Literaturgeschichte.

Rund 1,5 Millionen Euro stehen zur Verfügung

Solche vergleichenden Perspektiven möchte Gyburg Radke auch in ihre neuen  Forschungsprojekte einbringen. Dafür  kommt ihr die Dotierung des Leibnizpreises von rund eineinhalb Millionen Euro zugute, die die junge Professorin an ihr  neues Institut der Freien Universität mitbringt. Sie plant „Leibnizprojekte“ über die Kommentierung Platons in der Spätantike, die grundlegend war für die Philosophie und das Bildungswesen des Mittelalters, und über die Frage, wie sich moderne literaturwissenschaftliche Methoden auf antike Texte anwenden lassen. „Die Freie Universität bietet mit den exzellenten  Kollegen und den vielfältigen Themen das beste Forschungsumfeld in den Geisteswissenschaften“, sagt die Gräzistik- Professorin. Sie will unter anderem ihre Arbeiten in die Forschungsverbünde des Fachbereichs einbringen und  gründet selbst eigene Projekte wie die „Gruppe Literatur und Erkenntnis“ sowie einen Forschungsverbund zu den „sieben  freien Künsten“, den „Artes liberales“. Viele Pläne und Projekte – da bleibt wohl vorerst weniger Zeit für die Musikleidenschaft und das Cellospiel.