Springe direkt zu Inhalt

Das Klein-Brooklyn von Berlin

An die Schendelgasse des Jahres 1935 (oben) erinnern heute noch der Name und der Straßenverlauf. Fotos: Bundesarchiv (o), Bernd Wannemacher (u)

An die Schendelgasse des Jahres 1935 (oben) erinnern heute noch der Name und der Straßenverlauf. Fotos: Bundesarchiv (o), Bernd Wannemacher (u)

Charlottengrad und Scheunenviertel: Osteuropäisch-jüdische Lebenswelten im Berlin der 1920er und 1930er Jahre

Von Christine Boldt

Bis in die entlegensten Dörfer Galiziens war die Grenadierstraße im Berliner Scheunenviertel bekannt. Hier, nördlich des Alexanderplatzes, lebten auf engstem Raum die meisten jener jüdischen Zuwanderer aus Osteuropa, die zwischen 1880 und 1930 in die deutsche Metropole gekommen waren. Für die Flüchtlinge aus dem Russischen Reich, aus Rumänien, Galizien und der Bukowina, aus Ungarn, Böhmen, Posen und Schlesien war die Grenadierstraße das Sprungbrett über den Atlantik – im Berliner „Klein-Brooklyn“ lebten schon Verwandte und Freunde in der Warteschleife. Das Scheunenviertel sollte nur vorübergehender Aufenthalt sein, Zwischenstopp auf dem Weg in die Neue Welt. Wer konnte, zog so schnell wie möglich weiter – wem die Papiere fehlten oder das nötige Geld, musste bleiben.

Wie aber lebten die jüdischen Zuwanderer an diesem Ort des Übergangs, des ständigen Kommens und Gehens? Wie entstanden Gemeinschaft und Zusammenhalt in einem Umfeld, das mehr Provisorium als Heimat war?

Mit diesem Thema beschäftigt sich ein Historikerinnen-Team am Osteuropa-Institut der Freien Universität. „Die jüdische Geschichte ist über viele Jahrhunderte hinweg eine Migrationsgeschichte“, sagt Gertrud Pickhan. „Das prägt das Verhalten und hilft, bestimmte Fähigkeiten zu entwickeln – etwa sich in fremder Umgebung rasch zu orientieren und Netzwerke zu knüpfen.“ Die Professorin leitet das gerade gestartete, fächerübergreifende und internationale Forschungsprojekt „Charlottengrad und Scheunenviertel. Osteuropäisch-jüdische Migranten im Berlin der 1920er und 1930er Jahre“. Der Blick auf das Scheunenviertel ist dabei ein Teil des umfangreichen Gesamtprojekts, die Betrachtung Charlottengrads, des Russischen Viertels im Berliner Westen, ein weiterer.

In vier Sprachwelten teilten sich die osteuropäisch-jüdischen Einwanderer im Berlin jener Zeit: Das liberale, weltoffene Bürgertum sprach Russisch oder Deutsch und lebte im Westen. Die ärmeren Juden und die Orthodoxen blieben im Scheunenviertel und in der Spandauer Vorstadt und verständigten sich auf Jiddisch. Die zionistischen Literaten schließlich lebten in Friedenau und sprachen Hebräisch. Die sprachliche und kulturelle Vielfalt der osteuropäisch-jüdischen Lebenswelten spiegelt sich in den Forschungskooperationen des „Charlottengrad und Scheunenviertel“-Projekts.

Beteiligt sind neben den Wissenschaftlerinnen der Freien Universität noch Michael Brenner, Professor für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel von der Europa-Universität Viadrina (Frankfurt/ Oder), der Göttinger Literaturwissenschaftler Matthias Freise und Oleg Budnickij, Osteuropahistoriker am International Center for Russian and East European Jewish Studies in Moskau. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert das Gesamtprojekt mit rund 640 000 Euro für zunächst zwei Jahre.

Die Grenadierstraße heißt heute Almstadtstraße und verbindet Münz- und Linienstraße. Vom touristischen Treiben rund um den nahe gelegenen Hackeschen Markt ist im Straßengeviert um den Rosa-Luxemburg-Platz (Almstadt-, Linien-, Bartel- und Hirtenstraße), dem ursprünglichen Scheunenviertel, wenig zu spüren. Und auch von dem Leben damals zeugen nur blasse Spuren.

Seinen Namen verdankt die Gegend den 27 Scheunen, die Ende des 17. Jahrhunderts den Viehmarkt auf dem Alexanderplatz mit Heu und Stroh versorgten. Um 1900 entstand hier ein Sammelbecken für soziale Randgruppen. 1737 hatte Friedrich Wilhelm I. allen Berliner Juden, die kein eigenes Haus besaßen, befohlen, ins Scheunenviertel zu ziehen. Dieses Gesetz und die Regelung, dass Juden die Stadt nur durch die beiden nördlichen Stadttore betreten durften, führten dazu, dass ein Viertel mit starken jüdischen Kultureinflüssen entstand. Um 1920 waren etwa ein Drittel der Bewohner jüdische Migranten aus Osteuropa. Sie teilten sich den engen Raum mit ihren nichtjüdischen Nachbarn: mit Arbeitern, Dienstmädchen, Handelsgehilfen, Bettlern, Kriminellen und Prostituierten. Die Infrastruktur der Grenadier- und der Dragonerstraße (heute Max-BeerStraße) spiegelte die vielfältigen Seiten des jüdischen Lebens: koschere Läden, Handelsbörsen und Straßenmärkte sowie „Shtibelekhs“ in den Wohnungen – kleine Privatsynagogen, in denen die Rebbes ihre Anhänger um sich sammelten.

Innerhalb der Berliner Bevölkerung hatte das Scheunenviertel in der Weimarer Republik einen denkbar schlechten Ruf. Selbst für die assimilierten und akkulturierten Juden war es exotisch und fremd. Es war weder abgeriegelter Distrikt noch idyllisches Shtetl – das Scheunenviertel war Teil des jüdischen Berlins, eine Facette. Sein Pendant war das Russische Berlin rund um den Kurfürstendamm. Die Migranten nannten ihn Neppski-Prospekt, ihr Viertel Charlottengrad. Hier lebten vor allem die jüdischen Zuwanderer, die nach der russischen Revolution im Oktober 1917 nach Berlin emigriert waren. Sie waren mehrsprachig, viele hatten an europäischen Universitäten studiert. „Für mich waren das die ersten Europäer“, sagt Verena Dohrn, Historikerin an der Freien Universität, die das „Charlottengrad und Scheunenviertel“-Projekt mit Gertrud Pickhan entwickelt hat und koordiniert: „Die russisch-jüdischen Migranten gehörten zu den ersten, die sowohl die russische Revolution als auch den aggressiven Nationalismus in Europa kritisiert haben.“

Unter ihnen waren Intellektuelle, Literaten und Künstler wie Marc Chagall und El Lissitzky. Ilja Ehrenburg und Viktor Schklowski publizierten ihre wichtigsten Romane in Berlin. Simon Dubnow, der bedeutende jüdische Historiker, gab hier seine zehnbändige „Weltgeschichte des jüdischen Volkes“ in deutscher Übersetzung heraus. Andere Migranten gründeten Vereine und Verlage, Zeitungen und Agenturen – und schufen so für sich und andere Zuwanderer Arbeitsplätze.

Viele der akkulturierten, zumeist russischen Juden fühlten sich als Weltbürger und integrierten sich – allein optisch – unauffälliger ins Stadtbild der Metropole als die Juden im Scheunenviertel. Aus Überzeugung und aus Solidaritätsgefühl unterstützten sie ihre ärmeren Glaubensgenossen im Berliner Osten: Sie organisierten für die Scheunenviertel-Kinder Erholungsaufenthalte im Grunewald, gründeten Hilfsorganisationen und richteten gemeinsam mit den Fürsorgestellen der Jüdischen Gemeinde Beratungsangebote ein, um den in engen und unhygienischen Verhältnissen lebenden Familien zu helfen.

Warum über das jüdische Leben im Scheunenviertel der Weimarer Republik viel weniger bekannt ist als über das Russische Berlin, erläutert Anne-Christin Saß, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Osteuropa-Institut der Freien Universität: „Die Quellen, Briefe, Aufzeichnungen und Notizen aus jener Zeit liegen überwiegend auf Jiddisch vor – in der Alltagssprache, in der sich die meisten osteuropäischen Juden untereinander verständigten. Heute sprechen und verstehen das nur noch wenige."

Interessant, sagt Gertrud Pickhan, sei der Vergleich Berlins mit New York und Paris: „Berlin und Paris waren für die meisten jüdischen Migranten nur Durchgangsstationen, nicht Ziel wie New York.“ Dort gab es schon im vergangenen Jahr eine Konferenz über die jüdischen Migranten, die sich zwischen 1881/82 und 1920 an der Lower East niedergelassen hatten. Paris folgt in diesem Jahr mit einer Tagung über das Pletzl im Bezirk Marais. Berlin wird die ersten Ergebnisse des „Charlottengrad und Scheunenviertel“-Projekts im Herbst 2009 im Jüdischen Museum vorstellen.