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Mit Augenmaß

An der Freien Universität wird das Wetter noch von Menschen beobachtet – nicht nur, aber auch

Von Sven Lebort

Wenn Steffen Dietz ein Mal pro Stunde die Stufen des 30 Meter hohen Wetterturms auf dem Steglitzer Fichtenberg hinaufsteigt, ist er sich der Einzigartigkeit seiner Aufgabe bewusst. Die Freie Universität Berlin ist die einzige Hochschule in Deutschland, an deren Institut für Meteorologie das Wetter noch von Menschen beobachtet wird. Nicht nur, aber auch. Denn neben all den automatisierten Messungen von Temperatur, Luftdruck und Niederschlagsmenge, die ständig erfasst und an den Deutschen Wetterdienst (DWD) sowie an andere Dienste versandt werden, blickt hier immer noch ein – zumeist studentisches – Augenpaar in den Himmel über Berlin, und penibel registriert der Beobachter Daten, die kein Sensor erfasst, weil es zu aufwändig wäre oder technisch unmöglich ist: Wolkenarten und -höhen, Erscheinungen wie Gewitter, Nebel und Dunst, Regenbögen und Abendrot. Und auch so scheinbar Profanes wie die Art des Niederschlags: Ob es nun Niesel- oder Sprühregen ist, der da vom Himmel fällt, ob Schnee oder Hagel, das weiß kein Sensor. Der misst nur die absolute Menge – auf den Milliliter genau, immerhin.

Auf diese Weise sind Datenreihen entstanden, die das Wetter in einer Breite dokumentieren, wie es weltweit selten ist – und zwar lückenlos seit 1908, dem Jahr, in dem das „Königlich-preußische Meteorologische Institut“ in Dahlem seinen Dienst aufnahm. Wissenschaftler verwenden die hochwertige „Dahlemer Reihe“ gern in ihren Forschungsprojekten, um Veränderungen am Wetter und am Klima durch möglichst glaubwürdige Daten belegen zu können.

Dass die Reihen fortgeschrieben werden, ist Studierenden wie dem angehenden Meteorologen Steffen Dietz zu verdanken: Am 1. März 2002 stand die Beobachtung vor dem Aus, denn aufgrund finanzieller Probleme konnte nur eine der drei Arbeitsschichten professioneller Wetterbeobachter pro Tag weiter bezahlt werden. „Das darf nicht sein, nach fast 100 Jahren“, so waren sich einige Studierende schnell einig, und übernahmen zunächst für ein Semester ehrenamtlich diese Aufgabe. Parallel versuchten sie, über Spenden für eine Finanzierung des Vorhabens zu sorgen. Die Spenden reichten aber nicht aus und gingen zu unregelmäßig ein. Doch schließlich hatte jemand die rettende Idee: Aus historischen Gründen benennt das Meteorologische Institut der Freien Universität seit 1954 sämtliche Hoch- und Tiefdruckgebiete in Mitteleuropa – damit ist sie neben dem US-Wetterdienst die einzige Institution der Welt, die meteorologischen Druckgebilden einen verbindlichen Namen gibt. Aus diesem Vorzug schlugen die Studierenden Kapital zu Gunsten der Wetterbeobachtung: Sie riefen die Aktion „Wetterpate“ ins Leben und erlaubten es damit fortan jedem, ein Hoch- oder Tiefdruckgebiet zu taufen – gegen eine Gebühr von 199 Euro für ein Tief oder 299 Euro für ein Hoch. Die Rechnung ging auf: Das im November 2002 gestartete Programm stieß auf große Resonanz, mehr als Tausend verkaufte Namen feierten die Patenvermittler zum fünften Geburtstag im November. Und sicherten so die Mittel für die studentische Wetterbeobachtung.

„Reich wird davon natürlich niemand“, sagt Steffen Dietz. Aber es genügt, um den Studierenden den Aufwand zu entschädigen, wenn sie die Spätschicht von 14 bis 22 Uhr oder die Nachtschicht von 22 bis 6 Uhr im Wetterturm verbringen statt in der Bibliothek oder zu Hause. Ein Mal pro Stunde steigen sie aufs Dach des Turms und vermerken all das, was die Sensoren nicht feststellen können, sie schreiben Wetterberichte und -meldungen, geben Unwetterwarnungen heraus, interpretieren das Wetterradar für die Radiostationen, warnen Wassersportler vor Stürmen und Allergiker vor Pollen.

Im Studienplan ist die Wetterbeobachtung nicht mehr vorgeschrieben, doch die Erfahrung, die sie dabei machen, kommt den künftigen Meteorologen zugute. „Die Zusammenhänge werden klarer, die Theorien verständlicher und die Prognosen fundierter“, sagt Steffen Dietz, der gerade an seiner Diplomarbeit sitzt und dafür auch auf die Dahlemer Reihe zurückgreift. „Was nützt der beste Meteorologe am Computer, wenn er die Daten nicht interpretieren kann“, gibt er zu bedenken und betont, dass es auch beim Wetterdienst nicht schaden könne, ab und an aus dem Fenster zu schauen. Regen etwa sehe jeder heraufziehen, lange bevor der Niederschlagssensor den ersten Tropfen zählt, und die Stärke von Gewittern kann ein geübtes Auge lange vor deren Ausbruch gut einschätzen.

Als reiner Wetterbeobachter wäre ein ausgebildeter Meteorologe zwar überqualifiziert. Aber gerade für künftige Wetterprognostiker sind die Spät- und Nachtschichten im Dahlemer Wetterturm ein schwer zu ersetzender Erfahrungsvorsprung. Das scheint sich herumgesprochen zu haben, denn nicht nur aus Deutschland, sondern aus ganz Europa kommen immer wieder Studierende ans Institut für Meteorologie und auf den Fichtenberg, um einen regelmäßigen Blick in den Himmel über der Hauptstadt zu werfen.