Springe direkt zu Inhalt

Vom Segen der babylonischen Sprachverwirrung

„Der Turmbau zu Babel“ von Pieter Brueghel dem Älteren. Die Sprachenvielfalt ist das Fundament der Friedrich-Schlegel-Graduiertenschule.

„Der Turmbau zu Babel“ von Pieter Brueghel dem Älteren. Die Sprachenvielfalt ist das Fundament der Friedrich-Schlegel-Graduiertenschule.
Bildquelle: Wien, Kunsthistorisches Museum

Die Friedrich-Schlegel-Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien an der Freien Universität startet im Wintersemester

Von Christine Boldt

Die Freie Universität ist im Exzellenz-Wettbewerb des Bundes und der Länder auf ganzer Linie erfolgreich gewesen. Nicht nur ihr Zukunftskonzept als internationale Netzwerkuniversität wurde von den Gutachtern als besonders förderungswürdig anerkannt, sondern auch mehrere Forschungsschwerpunkte (Cluster) und Graduiertenschulen für den wissenschaftlichen Nachwuchs. In einer Artikelreihe wollen wir Ihnen, liebe Leser, die als exzellent bewertete Wissenschaft näher vorstellen. Heute berichten wir über die Friedrich-Schlegel-Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien.

Angefangen hat alles mit einem Turm, genauer gesagt dem Bau eines Turms. Bis zum Himmel sollte er reichen, der Turm zu Babel – so steht es in Genesis 11, 1–9, einer der bekanntesten biblischen Erzählungen. Die Geschichte über den alttestamentarischen Wolkenkratzer ist eine der zahlreichen in der Bibel überlieferten Anmaßungen, mit denen die Menschheit immer wieder versucht hat, sich selbst größer und Gott kleiner zu machen.

Dass das kein gutes Ende nahm, ist bekannt. Gott strafte subtil: Er schickte keine Sintflut, sondern schuf die babylonische Sprachverwirrung. Aus der gemeinsamen Ursprache machte der wütende Gott viele Sprachen, sodass die Menschen einander nicht mehr verstanden und sich in die ganze Welt verstreuten. Seitdem leiden die Menschen unter den Folgen des größenwahnsinnigen Turmbaus, lernen mühsam Fremdsprachen, um sich mit ihren Nachbarn verständigen zu können, oder üben sich in Volkshochschulkursen in interkultureller Kommunikation.

Die Wissenschaften freilich, vornehmlich die Philologien, profitieren von der post-babylonischen Polyphonie. Die Vielzahl und Vielfalt der Sprachen empfinden sie nicht als Verwirrung, sondern als Reichtum. Der komparatistische Blick der verschiedensprachigen Literaturwissenschaften gehört deshalb seit einigen Jahren zum guten akademischen Ton.

Für die zwölf Doktoranden der Friedrich- Schlegel-Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien an der Freien Universität, die im Oktober ihre Arbeit aufnehmen, ist die Geschichte vom Turmbau zu Babel gewissermaßen wissenschaftliche Existenzgrundlage. Und komparatistisches Arbeiten conditio sine qua non, unabdingbare Voraussetzung, für die Aufnahme in die Graduiertenschule. Friedrich Schlegel, der Namenspatron, gilt den Wissenschaftlern als Komparatist „avant la lettre“: Der romantische Autor war als Literaturhistoriker und -theoretiker seiner Zeit weit voraus und bewegte sich souverän zwischen verschiedenen Sprachen und Kulturen.

Die Doktoranden der Graduiertenschule haben ihren Magister- oder Masterabschluss in der Romanistik oder der Germanistik gemacht, in der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, der Japanologie oder den Nordamerikastudien. Drei Jahre lang werden zehn von ihnen mit einem Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert. Neben der Arbeit an der Dissertation besuchen sie Lehrveranstaltungen: Kolloquien, Methodik- und Didaktik-Seminare, Kurse zur wissenschaftlichen Arbeitsweise. Eine Kooperation zwischen der Graduiertenschule und den Verlagen Suhrkamp und Walter de Gruyter soll den jungen Wissenschaftlern die Gelegenheit geben, sich darüber hinaus mit der Praxis der Verlagsarbeit vertraut zu machen.

26 Professoren aus zwölf Instituten der Freien Universität sind an der im Rahmen der Exzellenzinitiative eingerichteten Friedrich-Schlegel-Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien beteiligt. Sie werden im „Tandem“ lehren: Professoren zweier verschiedener Fächer bieten Kolloquien oder Seminare an, um unterschiedliche Wissenskulturen zusammenzubringen. Der regelmäßige Austausch mit Wissenschaftlern anderer Philologien und Geisteswissenschaften soll den Stipendiaten helfen, den eigenen Untersuchungsgegenstand in einen größeren literatur- und kulturwissenschaftlichen Zusammenhang einzuordnen.

Rebecca Mak ist Japanologin und zukünftige Stipendiatin der Graduiertenschule. „Für mich ist der Austausch mit anderen Disziplinen sehr wichtig, gerade innerhalb eines für manche noch immer exotischen Fachs darf man nicht nur regionalwissenschaftlich arbeiten.“ Die 27-Jährige hat in München, Berlin und Kyoto studiert, promovieren wird sie über den japanischen Schriftsteller Mishima Yukio, dessen Werk sowohl in der fernöstlichen Tradition als auch in der westlichen Philosophie verankert ist.

Im Shoah-Archiv in Los Angeles sind etwa 51 000 Interviews mit Überlebenden des Holocaust gesammelt – Dokumente, die in Europa vollständig nur an der Freien Universität abrufbar sind. Schlegel-Stipendiat Andree Michaelis hat für seine Promotionsarbeit aus dem Shoah-Archiv die 931 deutschsprachigen Interviews von Auschwitz-Überlebenden ausgewählt – historische Quellen, die Michaelis mit literaturwissenschaftlichen Methoden untersucht.

„Die Literatur macht uns bewusst, dass die Lebenswelt, in der wir uns bewegen, nicht so objektiv vorfindbar ist, wie wir immer denken“, erläutert Peter-André Alt, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Freien Universität und Direktor der Graduiertenschule, den komparatistischen Ansatz. „Wir wollen deshalb keine Projekte fördern, die sich ausschließlich mit einer Nationalliteratur beschäftigen, sondern solche, die Literaturen untereinander vergleichen, um die Vielsprachigkeit und Vielfalt unserer Welt zu vermitteln. Das ist ein Ziel, das in Zeiten der Globalisierung, die vereinheitlichend wirkt, besonders wichtig ist.“

Zu den sechs Mitgliedern des prominent besetzten Internationalen Wissenschaftlichen Beirats, der auf Vorschlag des Vorstands der Schlegel-Graduiertenschule eingesetzt wurde, gehören der deutsch-amerikanische Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht von der Stanford University, die Anglistin Elisabeth Bronfen von der Universität Zürich und Nicholas Boyle, Germanist an der University of Cambridge. Ein Mal im Jahr werden die Wissenschaftler nach Berlin kommen, um aus internationaler Perspektive Anregungen für die weitere Arbeit an der Graduiertenschule zu geben.

Die Bedingungen sind ideal: „Wir haben an der Freien Universität eine einzigartige Breite der philologischen Fächer, die anderswo ausgedünnt und auf die Kernfächer reduziert werden“, sagt Peter-André Alt. Die Arbeit der Friedrich-Schlegel-Graduiertenschule wird außerdem durch die zahlreichen Kooperationen mit renommierten Universitäten im In- und Ausland begünstigt, die die Freie Universität seit ihrer Gründung eingegangen ist. Darüber hinaus wird sie unterstützt durch die Auszeichnung der Hochschule im Rahmen der Exzellenzinitiative sowie durch die vielen außeruniversitären Forschungseinrichtungen und Verlage in Berlin.

Fünf Jahre lang wird die DFG die Friedrich-Schlegel-Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien im Rahmen der Exzellenzinitiative fördern, danach sollen sich die Strukturen der Einrichtung so weit etabliert haben, dass die Doktoranden mit selbst eingeworbenen Stipendien an die Schule kommen. Nach seinem Lieblingswort von Friedrich Schlegel gefragt, zitiert Peter-André Alt: „Jeder hat noch in den Alten gefunden, was er brauchte oder wünschte; vorzüglich sich selbst.“ Er fügt hinzu: „Die Antike als Spiegel unterschiedlicher Selbstentwürfe, das gefällt mir am besten bei Schlegel.“ In diesem Sinne hofft Alt auf zukünftige Wissenschaftler-Generationen, die als Absolventen der Friedrich-Schlegel-Graduiertenschule das komparatistische Erbe in die Welt tragen. Und so den biblischen Fluch der babylonischen Sprachverwirrung – zumindest in der Literaturwissenschaft – in einen Segen verwandeln.

Weiteres im Internet: www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/friedrichschlegel/