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Zum Dehnen und Strecken in den Park

Im Reich der Mitte haben Leibesübungen Tradition – heute wird der Breitensport gefördert

Von Matthias Thiele

Die Sonne ist schon untergegangen, als das Spektakel beginnt: Auf dem Platz vor dem alten Tor der Sun Yat-sen Universität in Kanton versammeln sich an der Uferpromenade des Perlflusses Dutzende Pärchen. Die meisten der Männer und Frauen sind jenseits der 50. Aus vier Lautsprechern konkurrieren Walzer, Foxtrott und folkloristische Klängen um die Gunst der Tänzer. Die Rhythmen und Melodien mischen sich, später auch die Paare; es wird getanzt – so wie an jedem Freitagabend. Sport bis in die Nacht.

Auch andernorts wird in öffentlichen Parks oder auf den Exerzierplätzen vor Schulen, Universitäten und Kasernen geschwitzt, gedehnt, getanzt und salutiert. China ist in Bewegung, und die Regierung fördert die Leibesübungen ihrer Bürger an allen Ecken und Enden – gerade jetzt, da die Olympischen Spiele nahen. Auf der Weltbühne des Sports möchte die Führung in Peking den ersten Platz in der Länderwertung erkämpfen und die USA überflügeln. Der Eifer der Spitzensportler soll die gesamte Bevölkerung mit sich ziehen.

Und Bewegung tut not in China, denn mit dem wirtschaftlichen Aufschwung kamen auch die Krankheiten der modernen Zivilisation ins Reich der Mitte. Das bürogeprägte Berufsleben, der Schulstress, die fehlende Zeit; kurzum: Der neue Alltag der Chinesen fordert seinen Tribut. Fettleibigkeit durch falsche Ernährung, Rückenprobleme vom stundenlangen Sitzen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind die lästigen Begleiter des Fortschritts. Mitte der 1990er Jahre entwickelte die Führung in Peking deshalb ein staatliches Konzept, um den Breitensport zu fördern.

„Wenn man den Statistiken Glauben schenken darf, dann haben seitdem etwa 40 Prozent der Bevölkerung regelmäßig die neu geschaffenen Angebote genutzt – vor allem bei ortsnahen Sportstätten“, sagt Paul Unschuld, Direktor des Horst-Görtz-Stiftungsinstituts für Theorie, Geschichte, Ethik Chinesischer Lebenswissenschaften am Zentrum für Human- und Gesundheitswissenschaften der Charité, der gemeinsamen medizinischen Fakultät von Freier Universität und Humboldt-Universität. „Aber selbst für die Mehrheit der so aktivierten Menschen bedeutet Breitensport nicht die massenhafte Teilnahme an Leichtathletikübungen sondern eher so etwas wie die Trimm-dich-Bewegung."

Hans-Joachim Frölich, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Sonderforschungsbereichs 700 an der Freien Universität Berlin, hat bis Mitte Juni selbst in China gelebt: „Viele öffentliche Gymnastikplätze sehen auf den ersten Blick aus wie Spielplätze“, sagt er und fügt hinzu: „An Stangen und Geräten dehnen und strecken sich meistens ältere Menschen. Bei der Jugend sind Fußball, Tischtennis und Basketball allerdings höher im Kurs.“

Der Sport in China hat eine lange Tradition – allerdings wie im vormodernen Europa nur bei der Elite. Schon vor 2000 Jahren haben chinesische Autoren Bewegungsübungen beschrieben, die wir heute als Gymnastik bezeichnen würden. Grundlage war die Vorstellung, dass es im menschlichen Organismus neben dem Blut eine Art feinstmaterieller Dämpfe gebe, das sogenannte Qi. „Beides, Blut und Qi“, sagt Medizinhistoriker Unschuld, „gilt es nach dieser Auffassung, in ständiger Bewegung zu halten und allen Körperregionen zugänglich zu machen.“

Daneben zählen Fußball, Polo, eine Art Hockey, Boxen, Schwertübungen, Bogenschießen und Schattenboxen (mittlerweile weltweit bekannt als Taijiquan) und Rudern zu den seit altersher heimischen Sportarten der Chinesen. „Schon Konfuzius war der Meinung, Bogenschießen und Wagenlenken seien mehr als reiner Zeitvertreib“, sagt Unschuld. Der chinesische Philosoph sah in der sportlichen Ertüchtigung einen wichtigen Beitrag zu einer harmonischen Gesellschaft: „Bogenschießen und Wagenlenken waren somit nicht nur militärische Übung. Ihre strengen Regeln und die dafür erforderliche Disziplin dienten auch der Erziehung.“ Unter dem Einfluss des Konfuzianismus wurden die Übungen zunehmend ritualisiert, weil es auf die Vermittlung von Regeln ankam und nicht mehr darauf, den Gegner zu besiegen oder gar zu demütigen.

Der moderne Sport erreichte China in den letzten Jahren der Kaiserherrschaft; bald bemühten sich die Chinesen auch, der olympischen Bewegung beizutreten. Nach der Gründung der Volksrepublik im Jahre 1949 wurde nach dem Vorbild der Sowjetunion ein staatliches Sportsystem aufgebaut, das besonders den Hochleistungssport fördern sollte. Unter Deng Xiaopangs „Politik der offenen Türen“, die Ende der 1970er Jahre begann, näherte sich der chinesische Sport internationalen Standards, wie sie vor dem Zweiten Weltkrieg in China erst in Ansätzen zu finden waren. „Sport ohne Wettkampfcharakter ist in vielen Sportarten kaum denkbar“, sagt China-Experte Unschuld: „Hier hat China sehr rasch die internationale Sicht übernommen – und das mit Erfolg.“

Und wie sieht Breitensport in China heute aus? „In China findet sich heute ein buntes Gemisch an Möglichkeiten, sich sportlich zu betätigen“, sagt Unschuld. Angesichts der erst vergleichsweise kurzen Periode einer staatlichen Förderung des Sports und der erst seit wenigen Jahren möglichen innerstaatlichen Entwicklungshilfe gebe es verständlicherweise noch ein großes Stadt-Land-Gefälle. „Wer es sich leisten kann, geht in luxuriöse Fitness-Studios, wie man sie auch aus größeren Städten in Europa oder den Vereinigten Staaten kennt. Auf dem Land werden die traditionellen Bewegungsübungen nach wie vor gepflegt; aber auch in den Städten, ob auf der Uferpromenade neben dem Huangpu-Fluss in Shanghai, oder in kleineren und größeren Parks: Jeden Morgen finden sich Dutzende Gruppen von Menschen nahezu aller Altersgruppen zusammen, die – oftmals um einen Lehrer geschart – von Taijiquan bis zu Schwertkampfübungen alle möglichen traditionellen Sportarten ausüben.“

Insgesamt ist seit etwa zehn Jahren ein Rückzug des Staates aus dem Sport zu beobachten: Die Menschen in China haben mehr Geld und mehr Freizeit als früher. Kommerzielle Angebote locken in zunehmendem Maße. Nach wie vor bieten Schulen, Universitäten und die eigene Arbeitsstätte das reichhaltigste Angebot für sportliches Freizeitvergnügen. Dennoch: „Sportvereine, wie wir sie in Deutschland kennen, bleiben für die Regierung befremdlich“, sagt Paul Unschuld. „Eine derartige Vereinsstruktur würde in China den gesamtgesellschaftlichen Führungsanspruch der Partei in Frage stellen.“