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Legasthenie ist keine Kinderkrankheit

Legastheniker schreiben ein Wort in einem Text mehrmals unterschiedlich falsch.

Legastheniker schreiben ein Wort in einem Text mehrmals unterschiedlich falsch.
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Rechenschwäche ist bisher noch wenig erforscht.

Rechenschwäche ist bisher noch wenig erforscht.
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Wissenschaftler der Freien Universität Berlin helfen Kindern und Erwachsenen mit Rechtschreib- und Rechenschwäche

Von Sabrina Wendling

Paul Müller, 43, ist Bankangestellter. Jeden Tag betreut er Kunden, berät sie über Finanzanlagen und gibt ihnen Tipps für ihr Sparschwein. Eigentlich mag Paul Müller seinen Beruf. Doch wenn er einen Kunden von der Bank überzeugt hat und ihm ein Anschreiben zu den Begleitbroschüren nach Hause schicken möchte, bekommt er Bauchschmerzen. Unsicher tippt er die Betreffzeile. Zwar weiß er genau, was er schreiben will, aber schon in der Schule hat man ihn wegen seiner Rechtschreibung gehänselt. Paul Müller druckt die Briefe jedes Mal aus und nimmt sie mit nach Hause. Dort korrigiert seine Ehefrau die berufliche Korrespondenz.

Paul Müller ist kein Einzelfall. Verena Thaler, Wissenschaftlerin am Arbeitsbereich „Allgemeine und Neurokognitive Psychologie“ der Freien Universität Berlin, hat schon viele Erwachsene und Kinder mit solchen Problemen betreut. „Etwa vier bis acht Prozent der deutschen Kinder leiden unter Legasthenie“, sagt die promovierte Psychologin, „bei den Erwachsenen ist die Zahl ähnlich hoch, allerdings dürfte die Dunkelziffer unter ihnen sehr viel größer sein.“ Dem Arbeitsbereich ist das sogenannte Zentrum für Förderung und Beratung angegliedert, in dem rund 15 Kinder betreut werden. Derzeit baut das Zentrum seine Fördermöglichkeiten aus, und es wird bald erweiterte Kapazitäten haben. Auch Erwachsene können sich dort beraten und therapieren lassen.

„Legasthenie ist nicht wie eine Grippe oder wie Magenbeschwerden“, sagt Thaler, „sie tritt nicht plötzlich auf, man merkt es nach und nach.“ Vor allem sei es wichtig zu erkennen, dass es sich nicht um eine Kinderkrankheit handelt, die sich im Erwachsenenalter „verwächst“. Das wohl auffälligste Merkmal der Rechtschreib- oder Lesestörung sei die Schwierigkeit, das Gehörte in die Schriftsprache umzusetzen: „Es kann sein, dass ein Kind zwar ,Mama‘ hört, aber dann ,Ama‘, ,Oma‘ oder ,Mamma‘ schreibt.“ Typisch für die Legasthenie sei es auch, dass die gleichen Wörter innerhalb eines Textes mehrmals unterschiedlich falsch geschrieben sein können.

In der 1. Klasse schreiben fast alle Kinder zunächst so, wie sie das Wort hören. Bei den meisten Kindern gebe sich dies aber mit der Zeit, da sie dann selbst Texte lesen und die richtige Schreibweise im Kopf abspeichern würden, sagt Thaler. „Legastheniker sind nicht dumm oder faul, sie haben in der Regel einen normalen, teilweise sogar überdurchschnittlichen Intelligenzquotienten“, erklärt die Psychologin, „es handelt sich bei der Legasthenie um eine spezifische Speicherschwäche im Gehirn, deshalb werden die Wörter immer wieder auf verschiedene Weise falsch geschrieben.“

Die Leseschwäche, die entweder allein oder zusammen mit der Rechtschreibschwäche auftritt, macht sich anfänglich oft darin bemerkbar, dass Kinder etwas ganz anderes lesen als das, was tatsächlich geschrieben steht. Später fallen leseschwache Kinder vor allem dadurch auf, dass sie für das Lesen eines Textes ungefähr zwei bis drei Mal länger brauchen als andere Schüler: „Das kann sich auf andere Schulfächer auswirken, zum Beispiel auf Mathematik, wenn Kinder viel länger brauchen, um die Textaufgabe zu erfassen. Deshalb können sie die Aufgabe nicht rechtzeitig bis zur Abgabe der Klassenarbeit lösen“, beschreibt die Psychologin. So wird die Leseschwäche häufig als zusätzliche Matheschwäche fehlgedeutet.

Legasthenie sollte aber kein Grund sein zu verzweifeln: Inzwischen gibt es vielfältige Methoden, sie zu therapieren – sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern. „Auf jeden Fall sollte man die Seriosität der Förderinstitute prüfen, bevor man seine Kinder dort hinschickt oder selbst hingeht“, sagt Thaler. Abzuraten sei von Trainings, die nicht direkt beim Lesen und Schreiben ansetzen, sondern bei denen Kinder beispielsweise Töne hören und Lichter beobachten sollen, um dann einzuschätzen, aus welcher Richtung diese kommen. Die Wirksamkeit solcher Methoden sei bisher nicht hinreichend nachgewiesen. Thaler empfiehlt für eine genaue Diagnose, zunächst einen Arzt mit spezifischen Kenntnissen im Bereich Lernstörungen oder einen Psychologen aufzusuchen: „Lehrer können den Eltern zwar Hinweise auf Lese- und Rechtschreibschwächen geben, aber sie können diese nicht selbst diagnostizieren“, betont sie.

Heute sei man in der Forschung und in der Aufklärung über die Lese- und Rechtschreibschwäche schon viel weiter als noch vor einigen Jahren. „Früher wurden Kinder oft in Sonderschulen abgeschoben, oder man drohte es ihnen an, wenn sie schlecht in Rechtschreibung waren“, sagt Thaler. „Oft haben sie dann erst auf dem zweiten Bildungsweg ihr Abitur gemacht oder studiert.“ Bei Erwachsenen würden schon etwa 25 Sitzungen nach dem Therapiemodell des universitätseigenen Zentrums genügen, um die Rechtschreibung deutlich zu verbessern, bei Kindern sei der Förderaufwand mit 30 bis 60 Stunden sehr unterschiedlich hoch.

Eltern sollten darauf achten, ihre Kinder bei aller Förderung nicht zu überfordern. „In der Regel reicht das Training, das wir anbieten, in Kombination mit den Hausaufgaben völlig aus“, meint Thaler. Sämtliche Harry-Potter-Bände anzuschaffen und dem Kind jeden Tag zwei Lesestunden zu verordnen, setze das Kind in der Regel mehr unter Druck, als dass es ihm helfe.

Weit weniger erforscht als die Legasthenie ist die Dyskalkulie, also die Schwierigkeit, Mengen- und Zahlenräume einzuschätzen. Dabei ist die Zahl der Betroffenen mit etwa vier bis acht Prozent ähnlich hoch wie bei den Legasthenikern. Nicht zu verwechseln ist die Dyskalkulie mit Schwierigkeiten in der fortgeschrittenen Mathematik: „Es geht hierbei nicht um Probleme mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung oder beim Wurzelziehen, sondern um ein fehlendes Verständnis dafür, wie Zahlen aufgebaut sind oder was Addieren und Subtrahieren bedeutet. Viele Menschen mit Dyskalkulie haben Schwierigkeiten einzuschätzen, wie viele Leute sich in einem Fußballstadion befinden oder ob nun fünf oder zehn Murmeln auf dem Boden liegen“, erläutert Thaler.

Welche gemeinsamen Ursachen Legasthenie und Dyskalkulie haben, muss noch näher erforscht werden. Bislang gehen Forscher davon aus, dass rund 17 Prozent der Legastheniker auch von Dyskalkulie betroffen sind.


INFORMATIONEN

Informationen zur Diagnose und zur Therapie von Legasthenie und Dyskalkulie: Freie Universität Berlin, Arbeitsbereich „Allgemeine und Neurokognitive Psychologie“, Dr. Verena Thaler, E-Mail: verena.thaler@fu-berlin.de. Auf einem Kongress haben Wissenschaftler und Praktiker vom 2. bis 5. Oktober die Möglichkeit, sich über den Forschungsstand und über ihre Erfahrungen zum Thema Legasthenie und Dyskalkulie auszutauschen. Der Kongress wird vom Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e. V. an der Freien Universität ausgerichtet. Der Verband rechnet mit 1200 Teilnehmern.