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Moleküle auf Weltraumtour

Professor Volker Erdmann erkannte früh die Bedeutung der RNA.

Professor Volker Erdmann erkannte früh die Bedeutung der RNA.
Bildquelle: Töpper

Biochemiker der Freien Universität Berlin lassen an Bord einer russischen Sojus-Rakete experimentieren

Von Stephan Töpper

Ein durchsichtiger Plastikschlauch, fünf Zentimeter lang, ein Millimeter im Durchmesser – gefüllt mit winzigen, tiefgefrorenen Molekülen. Der Name des Moleküls: Ribonukleinsäure; RNS oder der englischen Bezeichnung folgend RNA abgekürzt. Die FedEx-Papiere, die ihren Transport nach Alabama in den USA dokumentieren, liegen ausgefüllt daneben. Aber der US-Bundesstaat ist nur der Anfang ihrer Reise. Insgesamt 50 dieser mit Ribonukleinsäuren gefüllten Mini-Schläuche reisen im Oktober rund 50 000 Kilometer weit: von Berlin nach Huntsville, Alabama, dann weiter über Moskau nach Baikonur in Kasachstan. Von dort transportiert eine russische Rakete vom Typ Sojus die Berliner Proben zur Internationalen Raumstation ISS in den Weltraum. Anschließend geht es zurück – über Baikonur, Moskau, Huntsville – nach Berlin ins Labor des Instituts für Chemie und Biochemie der Freien Universität.

Der enorme Aufwand, ein Molekül quer über den Globus und ins Weltall zu befördern, muss es wohl wert sein. Ribonukleinsäure stand lange im Schatten ihrer bekannteren Schwester, der Desoxyribonukleinsäure (DNA), die Erbinformationen speichert und die seit den 1950er Jahren als Quelle allen Lebens gilt. Volker A. Erdmann, Professor für Biochemie an der Freien Universität, hat früh erkannt, dass Ribonukleinsäuren viel mehr leisten, als ihnen zugetraut wurde. Zur Erforschung des Alleskönner-Moleküls gründete er 1998 das RNA-Netzwerk, das seither mit 60 Millionen Euro vom Berliner Senat, dem Bundesforschungsministerium und Industriepartnern gefördert worden ist. Über 20 Arbeitsgruppen von Berliner Universitäten, Max-Planck-Instituten und der Industrie sind am RNA-Netzwerk beteiligt.

„Unser Ziel ist es, die Struktur und Funktion der Ribonukleinsäuren zu erforschen, um herauszufinden, welches Molekül zum Beispiel die Umwandlung von einer normalen Zelle in eine Tumorzelle bewirkt“, sagt Erdmann. Solche Erkenntnisse können entscheidende Informationen liefern, um Krebserkrankungen nicht entstehen zu lassen. Wenn man den „Schalter“ kennt, der eine gesunde Zelle zur Tumorzelle macht, könne man bereits im Vorfeld dafür sorgen, dass dieser Schalter niemals angeknipst wird. „Während ein Chirurg mit Skalpell alles heraustrennt, was der Tumor befallen hat, wollen wir in die Zelle hineingehen und mit Hilfe der Nano-Chirurgie nur die Moleküle zerschneiden, die stören.“ Erdmann und sein Team wollen aber noch mehr: Sie erhoffen sich durch den RNA-Weltraumausflug Erkenntnisse darüber, was den Menschen zum Menschen macht und was ihn auf atomarer Ebene vom Schimpansen unterscheidet. In den Weltraum reisen deshalb auch vier Schläuche mit besonderen RNA-Molekülen, die in der Evolution dazu beigetragen haben, dass sich das Gehirn des Menschen schneller entwickeln konnte als das des Schimpansen.

Das Forscherinteresse an RNA-Molekülen ist in den letzten Jahren stark gewachsen. Während im Jahr 2003 noch keine 250 Artikel zu diesem Thema in Fachzeitschriften veröffentlicht wurden, sind es bis heute bereits über 30 000. Im Jahr 2006 korrigierten die US-Forscher Andrew Z. Fire und Craig C. Mello das lang gehegte Dogma der Genetik, dem zufolge die DNA als Speicher für Erbinformationen den Großteil der Arbeit im Körper verrichtet. Sie erhielten für ihre Forschung auf dem Gebiet der RNA den Nobelpreis.

Erdmanns RNA-Schläuche werden in Alabama von einer Art TÜV getestet, reisen weiter bis nach Baikonur, von wo aus die Rakete startet, und bleiben zwölf Tage lang im Weltraum. Dort legen sie bei 27 700 Kilometern pro Stunde nahezu acht Millionen Kilometer zurück. In den Schläuchen befinden sich links und rechts neben den Proben winzige Luftblasen, dann folgen jeweils drei Mikroliter eines Mittels, das die RNA aus der Lösung herausdrückt, damit sie im Weltall kristallisieren kann.

Die RNA-Moleküle steuerten das Geschehen in einer Zelle wie Dirigenten, sagt Erdmann. Er nennt die Moleküle mit den vielfältigen Koordinationsaufgaben die „heimlichen Regulatoren der Zelle“. Sie kopieren Erbinformationen und wandeln diese in Proteine um, in die Grundbausteine der Zelle.

Der Mensch hat rund 21 000 verschiedene Proteine, eine Pflanze etwa 38 000. Da denkt man zuerst, dass sich jemand vertan hat. Eine Pflanze kann nicht hören, sprechen, laufen und hat mehr Proteine als der Mensch? „Vielleicht sind nicht die Proteine die ausschlaggebenden Elemente in einem Lebewesen, die die Zelle zu dem machen, was sie ist, sondern die RNA-Moleküle“, sagt Erdmann.

Warum aber schickt man die RNA-Moleküle auf eine so weite Reise? Im Otto-Hahn-Bau der Freien Universität, benannt nach dem Entdecker der Kernspaltung des Urans, können die Biochemiker in zwei Stunden Milliarden und Abermilliarden verschiedener hochaffiner RNA-Moleküle herstellen. „Der Trick ist, von diesen 10 hoch 15 Molekülen dasjenige Molekül herauszuziehen, das die von uns gewünschten Eigenschaften hat“, sagt Erdmann. Für die Vorarbeiten dafür herrschten im Weltraum bessere Bedingungen, verglichen mit einem Labor auf der Erde. „Wir wollen etwas über die atomaren Strukturen wissen.“ Deshalb werden die RNA-Moleküle kristallisiert. Sie treten dafür aus ihrer Lösung heraus und ordnen sich in regelmäßiger Form an. Weil auf der Erde Moleküle mit der Zeit so schwer werden, dass sie auf den Boden fallen, können die Kristalle nicht in alle Richtungen wachsen. Im Weltraum dagegen, wo die Moleküle auf Zimmertemperatur erwärmt werden, wachsen die Kristalle gleichmäßig. In kristalliner Form können sie Röntgenstrahlen beugen. So erhält man eine sehr hohe, zum Teil atomare Auflösung. „Ist der Kristall wohlgeordnet, bekommen wir auch geordnete Informationen“, erläutert Erdmann den Vorteil, wenn man die Moleküle in den Orbit schickt – ein großer Schritt in Richtung neuer Pharmazeutika und Diagnostika.

Erst Ende Juli ergab sich die Gelegenheit zum Mitflug für Erdmanns RNA-Proben. Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt hat das Projekt genehmigt und Geld für Gehälter und Ausstattung zur Verfügung gestellt. Für Erdmann ist der Flug mit der Sojus-Rakete schon die 16. Weltraumexpedition. Während Erdmann und sein Team in Berlin die Kontrollexperimente betreuen, bringt der „RNA-Postbote“ Richard Garriott, Sohn eines Nasa-Astronauten und Entwickler von Computerspielen, die kostbare Fracht nach oben. Garriott suchte schon in der Antarktis nach Meteoriten und tauchte zur Titanic hinab. Seit sechs Tagen bereist er mit einem russischen und einem US-amerikanischen Astronauten als sechster Privatmensch für 30 Millionen US-Dollar den Weltraum.

Der Inhalt der Plastikschläuche wird nach ihrer Rückkehr unter dem Mikroskop untersucht. Doch nicht gleich: Erdmann hat die Reise der Moleküle verlängert und schickt sie nach Triest weiter, wo die RNA-Moleküle vermessen werden. Danach endet die Tour der Moleküle bei den Biochemikern in Berlin.