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Die Geheimnisse der Fruchtfliege

Bei Licht betrachtet. Mit seinem neuen Mikroskop sieht Stephan Sigrist, was im Gehirn der Larven vor sich geht.

Bei Licht betrachtet. Mit seinem neuen Mikroskop sieht Stephan Sigrist, was im Gehirn der Larven vor sich geht.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Gehirn und Lernen: Der Neurobiologe Stephan Sigrist forscht im Exzellenzcluster „Neurocure“

Von Matthias Thiele

Für eine Fruchtfliege sind die Buchstaben und Sätze dieser Zeitung nicht mehr als ein Haufen dunkler Flecken auf einem hellen Hintergrund. Und ein kleines Menschenkind würde die Umrisse der Buchstaben zwar scharf sehen, aber einen Sinn würde es nicht erkennen. Denn das muss es erst noch lernen.

Aber was genau geschieht beim Lernen? Wie und wo speichert das Gehirn Informationen, wie erinnert es sich? Zu der Beantwortung solcher Fragen möchte der Neurobiologe Stephan Sigrist beitragen: Er untersucht, wie das Gehirn lernt – am Beispiel der Fruchtfiege Drosophila melanogaster.

Seit August ist Sigrist Professor für Molekulare Entwicklungsgenetik der Tiere an der Freien Universität. Er ist der erste berufene Wissenschaftler des Exzellenzclusters „Neurocure – neue Perspektiven in der Therapie neurologischer Erkrankungen“. Federführend betreut wird das Projekt an der Charité, der gemeinsamen medizinischen Fakultät von Freier Universität und Humboldt-Universität.

„Das Gehirn verändert sich beim Lernen“, sagt Sigrist, „denn letztendlich gehen wahrscheinlich fast alle Lern- und Gedächtnisprozesse auf Veränderungen an Synapsen zurück: Diese empfindlichen Kontaktstellen, an denen die Nervenzellen miteinander kommunizieren, können im Laufe eines Lernprozesses stärker oder schwächer werden, oder es können sich gänzlich neue Synapsen zwischen den Nervenzellen bilden. Das Problem ist, dass man diese Prozesse nur schwer an lebendigen Tieren beobachten kann. Die Beobachtung ist aber wichtig, um die Prozesse voll zu verstehen. “

Und hier kommt Drosophila ins Spiel, die kleine Fruchtfliege, die im Sommer Obst und Gemüse umschwirrt und schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Vererbungslehre voranbrachte.

„Während der Mensch 100 Mal mehr Nervenzellen im Gehirn hat, als es Menschen auf der Welt gibt, ist das Gehirn der Fruchtfliege mit 500.000 Nervenzellen einigermaßen überschaubar. Und: Die Larven der Drosophila sind durchsichtig“, sagt Sigrist.

Unter einem neu entwickelten Lichtmikroskop kann er so die Veränderungen im Gehirn der Larven beobachten: Soll eine Nervenzelle eine nachgeschaltete Zelle reizen, müssen dort Eiweiße aktiviert werden. Hierfür wird in Mensch wie in Fliege der Botenstoff Glutamat in kleinen Hohlkugeln an die Zellmembran transportiert. Solche Vorgänge kann Sigrist nun im lebenden Organismus der Fruchtfliegenlarve beobachten.

Seine Erkenntnis: „Die Empfangsstelle für den Botenstoff, der Rezeptor, besitzt offenbar verschiedene Bausteine, die er individuell verändern kann. Alternativ kann auch mehr von dem Botenstoff ausgeschüttet werden. Dadurch kann ein Signal an der Synapse stärker oder schwächer weitergegeben werden. Diese molekularen Veränderungen an den Synapsen spielen beim Lernen eine entscheidende Rolle. Wir können diese auch aufgrund der exzellenten genetischen Möglichkeiten in Drosophila ideal untersuchen“

Die Ergebnisse seiner Arbeit sind oft auf den Menschen übertragbar, denn dessen Nervenzellen und Synapsen sind ähnlich aufgebaut. Die Glutamat-Rezeptoren scheinen bei Epilepsie, Schizophrenie und Alzheimer eine wichtige Rolle zu spielen.

Nun sollen Techniken und Ergebnisse, die Sigrist zur Fruchtfliege entwickelt und gewonnen hat, auch auf Säugetiere übertragen werden. Zusammen mit den Kollegen des Neurocure-Clusters will er mit Mäusen arbeiten, deren Nervenzellen den menschlichen noch stärker ähneln. „Ich kann hier mit Experten wie Volker Haucke oder Dietmar Schmitz zusammenarbeiten“, sagt Sigrist. „Deshalb habe ich nicht gezögert, als der Ruf aus Berlin kam, denn die Freie Universität und der Wissenschaftsstandort Berlin bieten ein attraktives Forschungsumfeld.“

Auch seine zehn Mitarbeiter aus Würzburg waren von den Umzugsplänen ihres Chefs begeistert: Bis November werden sie ebenfalls nach Berlin wechseln, zwei neue Doktoranden hat Sigrist bereits angenommen. Insgesamt sollen im Rahmen des Exzellenzclusters etwa 15 Professorenstellen neu geschaffen werden – mehr als 300 Bewerbungen von Wissenschaftlern sind bereits eingegangen, davon rund die Hälfte aus dem Ausland.