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Von Apfelbäumen und Abkürzungen

Ursprünglich wollte Julia Franck Anwältin werden – am liebsten hätte sie für Greenpeace oder Amnesty International gearbeitet.

Ursprünglich wollte Julia Franck Anwältin werden – am liebsten hätte sie für Greenpeace oder Amnesty International gearbeitet.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Die Schriftstellerin Julia Franck hat in den neunziger Jahren an der Freien Universität Berlin Germanistik studiert

Von Julia Kimmerle

Wenn man sie ließe, würde Julia Franck sofort an ihre alte Universität zurückkehren. Nicht unbedingt als Professorin für Germanistik, was bei einer Schriftstellerin naheliegen würde. Sondern als Studentin. In einem ganz anderen Studienfach: „Naturwissenschaften – entweder Biochemie oder Molekulargenetik, das würde mich sehr interessieren“, sagt sie. Ein Traum von ihr. Doch Julia Franck, die letztes Jahr mit ihrem Roman „Die Mittagsfrau“ den deutschen Buchpreis gewann und nun eine der bekanntesten deutschen Autorinnen ist, geht mit ihren Träumen realistisch um: „Mit kleinen Kindern und dem großen Erfolg des Buches habe ich gerade zwei Berufe: Schriftstellerin und Managerin. Und das schaffe ich nur, indem ich auch rigoros Projekte ablehne und Nein sage.“

Wenn die Autorin erzählt, wie sie arbeitet, um sowohl den Büchern als auch ihren Kindern gerecht zu werden – dann wird deutlich, wie viel Disziplin Kunst braucht. Von neun Uhr morgens an, wenn ihre Kinder in der Schule sind, sitzt Franck an ihrem Schreibtisch. Die Zeit von drei Uhr nachmittags bis etwa acht Uhr abends gehört ihren Kindern. Und die Zeit bis Mitternacht der Büro-Arbeit. An solche Strukturen musste sie sich erst gewöhnen. „Diese Art zu arbeiten wäre mir im Studium völlig absurd vorgekommen. Manchmal fing ich erst um zwei Uhr mittags mit der Arbeit an und schrieb dann eben bis spät in die Nacht hinein“, erzählt Franck.

Ihre Disziplin und den Willen, sich Wissen anzueignen, den hatte Franck jedoch schon früh bei sich entdeckt. Wenn auch auf Umwegen und nicht immer ganz freiwillig. 1978 war ihre Mutter mit ihren Kindern aus dem Ostteil Berlins nach Schleswig-Holstein gezogen, um dort den Traum vom Landleben für sich zu verwirklichen. Julia Franck wollte dagegen irgendwann nur noch eines: zurück in die Stadt. Mit 13 Jahren zog sie aus und ging wieder nach Berlin, wo sie zunächst bei Freunden und dann in einer Wohngemeinschaft wohnte. Sie trug Zeitungen aus, hütete Kinder und putzte, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren – und kümmerte sich um ihren schwerkranken Vater. Die Schule hatte da bald keinen Platz mehr: In der elften Klasse ging sie nicht mehr hin. „Wenn man in einer Familie aufwächst, in der alles traditionell verläuft, dann hinterfragt man den Wert von Bildung nicht. Ich war in meinen Jugendjahren dagegen sehr auf mich gestellt und habe mich mit ganz anderen Fragen des Lebens beschäftigt – Arbeiten, Freundschaften und dem frühen Tod meines Vaters. Das alles ließ mir die Schule als sehr unwichtig erscheinen“, sagt Franck. Eine Bewertung, die sich änderte, als sie später beschloss, das Abitur nachzuholen. „Ich habe die Schule dann als ein Angebot begriffen.“ Julia Franck besuchte die Anna-Freud-Oberschule im Norden Charlottenburgs. Ein Gymnasium, das wie Franck sagt, damals als „letzte Chance für Ausbrecher, Unterbrecher, überhaupt Umbrüchige“ galt. 1991 absolvierte sie das Abitur als Jahrgangsbeste.

Der gute Abschluss war für Julia Franck kein Blankoscheck für ein karriereorientiertes Studium, sondern in gewisser Weise eine gesellschaftliche Verpflichtung: „Ich hatte den Eindruck, dass man mit einem guten Abitur auch etwas studieren müsste, was einen gesellschaftlichen Nutzen hätte. Ich wollte Anwältin für Amnesty International oder Greenpeace werden.“ Diese Vorstellung war jedoch nicht naiv: „Ich war mir durchaus bewusst, dass das idealistisch war – aber daraus schöpfte ich vor allem am Anfang auch meine Euphorie.“ Sie begann ihr Jurastudium 1992. Doch dann verunglückte ihr Freund. Sie reiste in die Vereinigten Staaten, möglichst weit weg von Berlin. „Dort habe ich nochmals grundsätzlich über das Leben nachgedacht und mir überlegt, wie ich meine Zukunft gestalten will.“ Sie verbesserte ihr Englisch, lernte Spanisch und wurde auf mittel- und südamerikanische Literatur und Kultur aufmerksam. Sie las das Buch „Traurige Tropen“ des Ethnologen und Anthropologen Claude Lévi-Strauss und war von seinem klugen Blick in die Fremde begeistert: „Als ich dann zum ersten Mal in Mexiko war, beschloss ich, Altamerikanistik und Germanistik zu studieren“, erzählt Franck. Zurück in Berlin, bezog sie eine kleine Wohnung in Schöneberg; ihren „Meerschweinchenkarton“, wie sie heute sagt. Von dort aus nahm sie regelmäßig das Fahrrad für den Weg zur Uni, fuhr querfeldein bis Dahlem-Dorf und dann Richtung Habelschwerdter Allee. Es ist ein idyllisches Bild, das sie mit dem Campus der Freien Universität in den neunziger Jahren verbindet: „Man kam über diese kleine Holzbrücke zwischen vielen Apfelbäumen hindurch. Das war sehr schön“, erinnert sich die Schriftstellerin. Ihr Studium finanzierte sie sich mit verschiedenen Jobs: als Phonotypistin in Rechtsanwaltskanzleien, als Regieassistentin beim Radio und als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität. Die meiste Zeit verbrachte sie im Handschriftenlesesaal der Staatsbibliothek und transskribierte die Tagebücher von Gerhart Hauptmann und seiner Ehefrau. Kein einfacher Studentenjob, wie Franck heute meint: „Die Tagebücher von Hauptmanns Frau waren sehr eintönig. Sie hatte vor allem in Abkürzungen geschrieben. “u gang dr. u.“ hieß „Und ging zu den drei Ulmen“. Das war ihr täglicher Spaziergang, und das schrieb sie fast jeden Tag in ihr Tagebuch.“ Trotzdem half Julia Franck gerade diese für sie deprimierende Arbeit bei ihrem eigenen literarischen Fortschritt: „Ich habe mich danach immer wie wild darauf gefreut, selbst zu schreiben. Interessantere Dinge als die, mit denen Frau Hauptmann ihre Tagebücher füllte.“

1995 schickte sie eine ihrer Geschichten zu einem Nachwuchs-Literaturwettbewerb, dem „Open Mike“. Julia Franck wurde eingeladen und gewann ihren ersten Preis. Zum ersten Mal dachte sie ernsthaft darüber nach, Schriftstellerin zu werden. „Schriftstellerei war für mich nichts, was man durch ein Studium erlernen kann, sondern etwas, wozu einen zuallererst das Schreiben selbst, später ein Verleger und schließlich die Leser machen.“ Bald hatte sie all das: 1997 veröffentlichte sie ihren ersten Roman „Der neue Koch“. Zwei Jahre später folgte der Roman „Liebediener“ und im Jahr 2000 der Erzählband „Bauchlandung“. Im Herbst 2003 folgte der Roman „Lagerfeuer“ und 2007 „Die Mittagsfrau“. 400 000 Mal ist dieses Buch im deutschsprachigen Raum über den Ladentisch gegangen. Lizenzen gingen in 29 Länder, und das Buch wurde in 18 Sprachen übersetzt. Nächstes Jahr soll „Die Mittagsfrau“ verfilmt werden.

Ihr Studium hat Julia Franck nicht abgeschlossen. Obwohl sie eigentlich alle Seminarscheine hatte und auch ein Thema für ihre Magisterarbeit: „Sirenen und Melusinen bei Kafka, Bernhard und Bachmann“. Doch bekam sie 1998 ein Stipendium für ihr zweites Buch und musste sich entscheiden: „Die Verlockung, ein ganzes Jahr ausschließlich an einem Roman zu schreiben, war so groß. Ich wusste: In diesem Augenblick darf ich nicht länger jobben und studieren. Ich muss nur noch schreiben.“