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„Vögel sind gute Ornithologen“

In einem Gedicht stecke eine ganze Welt, findet Raoul Schrott.

In einem Gedicht stecke eine ganze Welt, findet Raoul Schrott.
Bildquelle: Jan Hambura

Der Dichter Raoul Schrott ist neuer Samuel-Fischer-Gastprofessor

Von Christine Boldt

Raoul Schrott hat viele Berufe: Der gebürtige Tiroler ist Dichter, Übersetzer und Komparatist. „Poet bin ich sicher vor allem anderen“, sagt Schrott, der sich in diesem Wintersemester als Inhaber der Samuel-Fischer-Gastprofessur an der Freien Universität mit seinen Studenten der Lyrik widmen will. Nur nicht so, wie er es in seiner Schulzeit kennengelernt hat: „Finden Sie das Versmaß heraus!“ Mit diesem Satz sei er im Deutschunterricht regelrecht gefoltert worden. „Dann entdeckt man zwar, das ist ein Daktylus und das ein Jambus – aber warum an einer Stelle das eine Versmaß verwendet wird und nicht das andere, das haben sie uns nicht erklärt.“ Dass Satz- und Reimstruktur, Metaphern, Bilder und Metrik kein Selbstzweck, sondern musikalische Mittel eines Gedichts sind, um Informationen zu transportieren, will Schrott weitergeben: „Beim Jambus geht die Stimme plötzlich herauf, das ist wie ein Warnsignal, eine Art verbaler Kinnhaken!“

Viel ist bei Schrott vom Werkzeug die Rede, das man braucht, um ein Gedicht lesen und interpretieren zu können, viel vom Gedicht als der komprimiertesten sprachlichen Form von Weltwahrnehmung. Wenn Raoul Schrott über Poesie spricht, redet er gleichzeitig über Musik und Malerei, über Logik und Neurologie. Sein Nachdenken über Funktion und Rolle der Poesie hat ihn in Kontakt mit dem Psychologen Ernst Pöppel gebracht, der über Bewusstsein, Kognition und Neurophysiologie forscht. Daraus ist nicht nur ein gemeinsames Buch entstanden, am 6. November werden beide auch den Auftaktvortrag für die Samuel-Fischer-Gastprofessur bestreiten.

Raoul Schrott, Dichter und Komparatist in Personalunion, glaubt, „dass Vögel auch gute Ornithologen sein können“ – eine Trennung zwischen Dichter und Literaturwissenschaftler sei deshalb ebenso künstlich wie die im 19. Jahrhundert entstandene Unterscheidung zwischen den akademischen Disziplinen. Seine Überzeugung, dass nur ein literaturwissenschaftlich vergleichender Ansatz fruchtbar sei, hat auch mit seiner Biografie zu tun: Aufgewachsen als Sohn eines österreichischen Diplomaten in Tunis, hat Schrott in Norwich, Paris, Berlin und Innsbruck studiert. Er hat Romane, Gedichte und Reiseprosa geschrieben, die altgriechischen „Bakchen“ für das Wiener Burgtheater neu übersetzt und das babylonisch- akkadische Gilgamesch-Epos übertragen. Seine Neuübersetzung von Homers Ilias ist gerade uraufgeführt worden, die Recherchen zu dieser Arbeit haben ihn – auch im übertragenen Sinne – an die griechisch-assyrische Grenze geführt.

Ein Ruf eilt ihm voraus, noch bevor er sein erstes Seminar als Samuel-Fischer- Gastprofessor an der Freien Universität Berlin gehalten hat: Denn mit seinen viel diskutierten Thesen zur Biografie des griechischen Dichters Homer hat Raoul Schrott im akademischen Betrieb für Wirbel gesorgt und sich aus Sicht der etablierten Homer-Forschung weit vorgewagt. Er hat Argumente dafür vorgelegt, dass Homer nicht nur ein Jahrhundert später als bisher angenommen gelebt haben könnte, sondern auch ganz woanders: In Kilikien, im Südosten der heutigen Türkei. Dort sei, so Schrotts Überzeugung, Homer als Schreiber bei den Assyrern angestellt gewesen. Altphilologen und Historiker widersprachen seiner Einschätzung und hielten ihm vor, dass seine Argumente der wissenschaftlichen Prüfung nicht standhielten und er zudem als Dichter, Übersetzer und Komparatist gar nicht berufen sei, Erkenntnisse aus 250 Jahren Homer-Forschung anzuzweifeln.

Die Heftigkeit, mit der in den letzten Monaten öffentlich über diese Thesen gestritten wurde, mag den Laien erstaunen; Schrott selbst war vom starken Gegenwind aus Teilen des akademischen Betriebs nach eigenem Bekunden überrascht und zeigte sich von den persönlichen Angriffen genervt. Den Grund meint er zu kennen: „Homer ist ein Sinnbild für eine Haltung, die sich in der Romantik heraus gebildet hat und die häufig instrumentalisiert wird für bildungsbürgerliche Zwecke, die mit Bildung und Bürgertum überhaupt nichts zu tun haben, sondern reine Ideologie sind.“

Lust und Mut, eigenständig zu denken, Widersprüche zuzulassen und sich nicht sklavisch durch Fußnoten abzusichern – „das schafft höchstens eine epigonale Intelligenz, bei der die Meinung vom Lehrer an den Schüler weitergegeben wird“ – will Raoul Schrott seinen Studenten vermitteln. Auch wenn es zuweilen unbequem ist, wie er am eigenen Leibe erfahren hat.