Die Freie Universität im Jahr 2048
Der Mann mit dem roten Cordhemd: Horst Evers stammt ursprünglich aus Evershorst bei Diepholz, lebt aber seit 1987 in Berlin und lässt sich vom Wedding und von Kreuzberg zu Texten und Liedern inspirieren. Er studierte an der Freien Universität.
Bildquelle: Hans Georg Gaul
Ein nicht ganz ernst gemeinter Ausblick des Berliner Kabarettisten und ehemaligen Studenten der Freien Universität Horst Evers
Die Freie Universität wird 60 Jahre alt. Doch wie wird sie wohl im Jahr 2048 mit 100 Jahren aussehen? Gedanken darüber hat sich der Kabarettist Horst Evers gemacht.
Anlässlich des hundertsten Geburtstages der Freien Universität Berlin hielt der Präsident der Freien Universität Berlin, Professor Dr. Dr. Lukas Podolski, eine gleichermaßen augenzwinkernde wie bewegende Rede.
In Anwesenheit von Kanzlerin Judith Holofernes, Bundespräsident Jürgen Klinsmann und dem Deutsche-Bank-Chef Bushido ermahnte Professor Podolski die versammelten Vertreter von Politik und Wirtschaft dringend, den Zugang zu Bildung für alle Menschen aus allen Bevölkerungsteilen offen zu halten. Strukturelle Fehlentwicklungen und unsinnige politische Vorgaben, welche noch im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts Kindern aus Mittel- oder Unterschichtfamilien den Weg an die Universität erheblich erschwert, wenn nicht gar verunmöglicht hätten, dürften sich auf keinen Fall wiederholen.
Doch auch das Hochschulstudium im zweiten Bildungsweg lobte Professor Podolski nachdrücklich. Immerhin sei selbst ihm die akademische Laufbahn nicht gerade in die Wiege gelegt worden.
Erst während seiner vielen, vielen Jahre auf Ersatzbank und Tribüne beim FC Bayern München habe er seine Liebe zur Wissenschaft entdeckt. Zuerst habe er auf der Bank gesessen und gegrübelt, später aus Langeweile angefangen zu lesen: Krimis, dann Literatur, schließlich Fachbücher. Irgendwann habe er sein Abitur nachgemacht, sich zum Fernstudium angemeldet und letzten Endes die insgesamt 16 Jahre als Ersatzspieler des FC Bayern genutzt, um gleich vier Hochschulabschlüsse in Vergleichender Literaturwissenschaft, Psychologie, Betriebswirtschaftslehre und Jura zu machen.
Bis heute, sinnierte Professor Podolski und lächelte dabei vielsagend zu Bundespräsident Klinsmann hinüber, sei er seinem damaligen Trainer zutiefst dankbar, dass dieser ihm seinerzeit geholfen habe, sich von diesem ganzen Fussballquatsch zu lösen.
Podolski hielt inne. Schließlich hatte er allen Grund, stolz zu sein: Nun, im Jahr 2048, ist er Präsident einer Vorzeigeuniversität mit zurzeit über 30 Millionen Studenten und Studentinnen. Viele davon schon seit Jahrzehnten, wenngleich man froh ist, dass seit drei Jahren die Zahl der Neuimmatrikulationen die Zahl der verstorbenen Studenten wieder übersteigt.
Möglich geworden ist diese riesige Zahl an Studierenden natürlich erst durch die Einführung der virtuellen Studiengänge. Schon im Jahr 2010 hatte man an der Freien Universität überlegt, wie man das Hochschulstudium für nachwachsende Generationen attraktiver gestalten könnte.
Es galt die Studenten dort abzuholen, wo sie standen oder vielmehr saßen. Wenn die Studenten schon nicht mehr in die Universität kommen wollten, dann musste die Universität eben zu den Studenten kommen. So war es im Sommersemester 2010 erstmals möglich, verschiedene Master-Studiengänge innerhalb des World-of-Warcraft-Universums, also im Cyberspace, abzulegen. In Kooperation mit den Spielemachern ermöglichte es die Freie Universität Berlin, in der Identität von Trollen, Gnomen oder Nachtelfen quasi ein komplettes Studium der Medizin, Geologie oder Literaturwissenschaft zu absolvieren. Die Prüfungen wurden in Form von sogenannten Quests absolviert. Erst zum Schluss gab es ein paar praktische Tests, für die die World-of-Warcraft-Studierenden ihren Computer verlassen mussten. Der große Erfolg und die enorme Nachfrage sorgten dafür, dass die Freie Universität kurz darauf ihr gesamtes Studienangebot im World-of-Warcraft-Universum anbot. Natürlich zogen andere Universitäten bald nach, und selbstverständlich konnte man schon bald auch in fast allen anderen Online-Computer-Rollenspielen praktisch jedes Studium beginnen.
Nach nur wenigen Jahren war praktisch der gesamte Lehrbetrieb von der Universität in die Online-Spiele ausgelagert. Die Gebäude der Freien Universität wurden nur noch für mehr oder wenige gesellige Zwecke benutzt. Viele kamen immerhin noch regelmäßig zum Essen in die Mensa, andere nutzten die leer stehenden Räume für AG-Treffen oder einfach nur für Gespräche über dies und das. Schnell zeigte sich jedoch: Nun, da das soziale Leben der Studenten an der Universität nicht mehr von einem Lehrbetrieb, von Vorlesungen, Seminaren oder Prüfungen gestört wurde, gefiel es den Studenten immer besser in den Unigebäuden. Sie begannen, kleinere und größere Feiern zu organisieren. Erst einige, dann mehr, schließlich ununterbrochen. Immer mehr Studenten verbrachten immer mehr Zeit, immer besser gelaunt an den Universitäten. Auch die Schulen, die gleichfalls durch den Erfolg der Universitäten den Großteil ihrer Unterrichtseinheiten in Online-Spiele verlegt hatten, erlebten das gleiche Phänomen.
Bald erhoben sich Klagen aus vielen Teilen der Gesellschaft, die Schüler und Studenten würden kaum noch Zeit bei der Ausbildung, also in ihren Browsergames, verbringen und nur noch den ganzen Tag an Schulen und Universitäten, in Bibliotheken und Arbeitsgemeinschaften herumlungern. Viele seien offenkundig süchtig nach sozialen Kontakten, nähmen ihre Umwelt im Cyberspace kaum noch wahr, lebten ganz in ihrer seltsamen Sozialen-Miteinander-Welt.
Speziell die Vertreter der Wirtschaftsverbände gerieten regelrecht in Panik. Sie hatten die berechtigte Hoffnung gehabt, dass durch die Online-Computerspiel-Kurse die Regelstudienzeit in fast allen Fachbereichen auf sechs Monate verkürzt würde, was, kombiniert mit den gleichfalls im virtuellen Raum ausgebildeten 13-jährigen Abiturienten, ihnen endlich die für den internationalen Markt so dringend benötigten 14-jährigen Hochschulabsolventen beschert hätte. Diese hätten dann durch das gerade erst auf 86 Jahre raufgesetzte Renteneintrittsalter vielleicht endlich einmal jene Lebensarbeitszeit gehabt, welche volkswirtschaftlich so bitter notwendig wäre, um endlich zumindest teilweise die gigantischen Schuldenberge abzubauen. Diese hatten die Vorgänger gerade dieser Vertreter der Wirtschaft in enger Zusammenarbeit mit den klügsten Köpfen der Finanzwelt im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts so kunstvoll kreiert. Doch daraus wird wohl nichts werden.
Denn längst, daran ließ auch Professor Podolski in seiner Festrede keinen Zweifel, habe die Freie Universität im hundertsten Jahr ihres Bestehens ihre wichtigste Funktion erkannt: jene als sozialer und wissenschaftlicher Kontaktmarkt für junge Menschen aus aller Welt. Junge Menschen, denen vor allem eines beigebracht werden muss: Es gibt Wichtigeres, als eine schnell verwertbare akademische Ausbildung. Studieren heißt auch sich umzuschauen, sonst lernt man nix. „Oder anders gesagt“, schloss Podolski mit einem Zitat von Jean-Luc Picard, dem Kapitän des Raumschiffes Enterprise: „Das Leben findet einen Weg.“ Sogar an der Universität.
Der Autor Evers studierte an der Freien Universität auf Lehramt. Heute lebt er als Kabarettist und freier Autor in Berlin. Er erhielt den Deutschen Kleinkunstpreis 2008. Zuletzt erschienen ist sein Buch: „Mein Leben als Suchmaschine“ im Eichborn Verlag, Frankfurt am Main.