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Ein intellektuelles Abenteuer

In einem Forschungsprojekt an der Freien Universität zeichnen Philosophen die Geschichte der christlichen Kabbala nach

Dem Kabbalisten erscheint die verborgene Struktur der Welt. Hier ein Titelholzschnitt von Josef Gicatilla: Porta Lucis, übersetzt von Paulus Ricius (1516).

Dem Kabbalisten erscheint die verborgene Struktur der Welt. Hier ein Titelholzschnitt von Josef Gicatilla: Porta Lucis, übersetzt von Paulus Ricius (1516).
Bildquelle: Repro FU

Von Wilhelm Schmidt-Biggemann

Man sollte sich bei dem Thema Kabbala von allen Selbstverständlichkeiten des normierten Denkens verabschieden und auf ein intellektuelles Abenteuer einlassen. Hier wird man Gedanken zu hören bekommen, die man sich nicht einmal zu träumen getraut hat. Es geht um Wissensformen, die uns seit dem 18. Jahrhundert weitgehend abhanden gekommen sind. Sie waren zwischen dem 15. und dem 18. Jahrhundert Teil der öffentlichen Diskussion im intellektuellen Europa. Im 20. Jahrhundert sind diese Erkenntnisse für die jüdischen Traditionen vor allem durch den Religionshistoriker Gershom Scholem wiederentdeckt worden. Mit den christlichen Traditionen der Kabbala befassen sich nun Wissenschaftler eines größeren Forschungsprojekts im Rahmen der von der DFG geförderten Forschergruppe „Topik und Tradition“ an der Freien Universität Berlin.

Weil Kabbala häufig mit den Etiketten Geheimwissenschaft und Magie verbunden wird, sind einige Klarstellungen zweckmäßig. Zunächst: Was ist Kabbala überhaupt? Der Name ist durch das hebräische Wort „kibel“ überliefert. Kabbala heißt in diesem Sinn nicht mehr als „Tradition“. Der Name Kabbala zielt auf eine Überlieferung der Bibelauslegung, die im Wesentlichen zwei Bereiche betrifft: zum einen die Deutung der Natur Gottes gemäß seinen von ihm geoffenbarten Kräften, das heißt seiner Namen und seiner personalisierten Potenzen (zum Beispiel der Engel) sowie zum anderen die Auslegung seiner Schöpferkraft. Deshalb ist auch die Interpretation der biblisch überlieferten Schöpfungsgeschichte konstitutiver Teil der Kabbala. In jedem Fall steht die Selbstoffenbarung Gottes im Mittelpunkt; diese Offenbarung wird vor allem in der Bibel gesucht. So ist Kabbala letztlich eine besondere Form der Bibelauslegung. Allerdings interpretieren die Kabbalisten die Bibel anders, als wir es gewohnt sind. Sie versuchen, den buchstäblichen Sinn der Bibel zu hinterfragen. Ihr Wissensziel ist eine besondere Einsicht, ein Wissen für Kenner und Fromme. Man muss sich also, wenn man sich überhaupt mit Kabbala beschäftigen will, mit viel intellektueller Fantasie auf die biblischen Texte, vor allem auf die Schöpfungsgeschichte, einlassen.

Die Lehren der Kabbala und ihre Methoden, Wissen zu schaffen, sind in der Spätantike, im Mittelalter und in der frühen Neuzeit entwickelt worden. Dabei ist die Kabbala keine rein innerjüdische Wissensform. Sie schließt vielmehr an antike, vom Platonismus geprägte Vorbilder an und hat Parallelen in der Schriftauslegung der christlichen Kirchenväter. In der Frühen Neuzeit hat sich darüber hinaus eine christliche Kabbala entwickelt, die die spätantike Bibelauslegung, neu-pythagoräische Zahlenlehre und platonisierende Spekulation miteinander verband.

Für das Verständnis der Kabbala ist der Begriff der Schrift zentral. Was aber bedeutet hier Schrift? Natürlich zunächst „Heilige Schrift“, Bibel. Diese Schrift ist in Buchstabenform überliefert, die Thora – das christliche Alte Testament – ist in Hebräisch verfasst und in hebräischen Buchstaben aufgeschrieben. Es geht bei der Frage nach Kabbala und Schrift deshalb zunächst ums Hebräische, im weiteren Sinn ums Griechische und Lateinische, die „heiligen Sprachen“. Jede dieser Sprachen hat ihre eigenen Buchstaben.

Mit dieser Feststellung ist aber noch nicht viel gewonnen. Denn die Frage, was Schrift bedeutet, ist damit keineswegs geklärt. Die Sache erweist sich bei genauerem Hinsehen als viel komplizierter; und hier beginnen die Spekulationen der Kabbalisten über die Schrift. Zunächst stellt sich die Frage nach Sprache und Schrift. Prinzipiell ist nämlich wichtig, ob eine Sprache gesprochen werden muss oder ob sie auch existiert, wenn sie nur geschrieben ist. Wie gehören Stimme und Laut, Buchstaben und Schrift in der Sprache zusammen?

Buchstaben repräsentieren die Möglichkeit der Sprache, Wirklichkeit zu werden. Sie sind das Medium, das für die Sprachlichkeit zur Verfügung steht, ohne dass die Sprache im einzelnen Buchstaben schon sinnhaft wäre. Buchstaben müssen in ihren Formen klar unterscheidbar sein; damit stellen sie Ordnungen im Raum dar. Sie sind Bilder dessen, was sinnvoll werden kann. Zusammengesetzt ergeben Buchstaben Sinn. Ohne sie ist kein Sprachsinn möglich.

Wie kommt nun Schrift zur Sprache? Durch Stimme und Laut. Keine Frage, es gibt auch eine Sprache ohne Schrift. Aber eine solche Sprache ist flüchtig. Buchstaben und Schrift garantieren den Sinn der Sprache über das Ende einer Sprachgemeinschaft hinaus. Deshalb ist die Frage nach der Bibel als der buchstäblichen Offenbarung Gottes zentral für die Kabbalisten: Die Buchstaben garantieren die Ewigkeit der Offenbarung. Diese Aussagen gelten für alle Schriftlichkeit. Was das alles mit der Auslegung des Bibeltextes zu tun hat? Hier spielt nun die biblische Schöpfungserzählung eine Schlüsselrolle. Da heißt es: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“ Und später: „Und Gott sprach: Es werde Licht, und es ward Licht.“ Diese Kernaussagen haben zwei Schlüsselworte: einmal „im Anfang“, zum andern „sprach und es ward“. Die Aussage „sprach und es ward“ hat zwei Komponenten: Sprache ist hier als Befehl gedeutet: „Es soll in die Existenz kommen“ – und es wird berichtet: „Es ward.“ Die Sprache, die der biblische Text meint, ist performativ verwendet, dadurch, dass Gott spricht, wird etwas. Sie beschreibt nicht Gegenstände, sondern sie ist schöpferisch, sie macht die Dinge, indem sie gesprochen wird.

Aber wie vollzieht sich dieser Sprachakt eigentlich? Und was wird eigentlich durch das „sprach und es ward“ geschaffen? Offensichtlich die vielfältigen Dinge der Welt. Diese Dinge müssen in ihrer Bestimmung, wenn es sich denn um Schöpfung durch das Wort handeln soll, vorher gedacht werden. Wenn aber im Sprechen die Realisierung der Dinge geschieht, wie sieht es vor dem Sprechen aus? Wie kann die Welt zeichenhaft gedacht werden? Hier zeigt sich die symbolische Bedeutung der Schrift: Die Schrift kann nämlich etwas erzeugen, das nicht oder noch nicht da ist, sie kann mögliche Welten konstruieren. In diesem Sinne muss das „im Anfang“ interpretiert werden: Gott konzipierte die Welt, indem er sich mit der Schrift befasste. Die Schrift ist schließlich auch Zahlzeichen, in der Zahlenschrift zeigen sich die zeitlosen Wahrheiten der Arithmetik. Die Schrift hat Formen, in ihr zeigen sich die zeitlosen Elemente der Geometrie. Für die Kabbalisten ist die Schrift darüber hinaus der Träger des Sinns, der sich in den ewigen Wahrheiten der Offenbarung zeigt.

Die Spekulationen der Kabbalisten sind gründlich und scharfsinnig. Auch für diejenigen, die ihre theologischen Grundlagen nicht teilen, eröffnet sich ein unerwartetes Feld von Einsichten, die über die Sprach- und Schrifttheorie weit hinausgehen.

Der Autor ist Professor für Philosophie, Leiter des Forschungsprojekts „Christliche Kabbala“ und Sprecher der Forschergruppe „Topik und Tradition“.