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Neugeborenes Kind

Von Dieter Lenzen

März. Zurückgezogen irgendwo nahe Oxford. – Zirka 40 Männer und Frauen besprechen die Lage des zarten Pflänzchens „Weltwissenschaftssystem“vor dem Hintergrund der Finanzkrise; Politiker, Wissenschaftler, Hochschullehrer, Journalisten; international, aber mit besonderem Blick auf die USA und Großbritannien. Die Diagnosen sind beunruhigend. Die Finanzkrise wird das ganze internationale Wissenschaftssystem in Turbulenzen bringen und dadurch belegen, dass es bereits ein System geworden war: In den USA verlieren die großen Ivy League Universities bis zu fünfzig Prozent ihres Vermögens und entlassen wissenschaftliches Personal in dreistelligen Ziffern. Der Obama-Effekt könnte verpuffen. Der europäische akademische Arbeitsmarkt kann diese Wissenschaftler aufnehmen, wenn er sich jetzt antizyklisch verhält, was er kann, soweit er staatlich finanziert wird.

Das englische Budgetierungssystem, Finanzierung anhand von akademischen „Produkten“, hat das wissenschaftliche Selbstverständnis ruiniert. Seit den Thatcher-„ Reformen“ funktionieren zahllose Wissenschaftler so, wie es die Behavoristen weiland bei ihren Laborrattenstudiert haben: Die Aussicht auf ein Stückchen Käse (Haushaltsmittel) löst die Bereitschaft aus, die gewünschte Taste zu drücken: Gemacht wird vornehmlich, was Geld bringt: Absolventen koste es was es wolle, Publikationen nur in bestimmten Organen, statt freier Wahl der Forschungsgegenstände nur diejenigen, für dieder Staatauchzahlt. Schon in den 90er Jahrenbrachen gut funktionierende internationale Forschernetzwerke zusammen, weil internationale Kooperation nicht auf der Preisliste stand und nichtenglische Forscher andere Forschungsthemen für verfolgenswerter hielten als die staatlichen Geldgeber im Vereinigten Königreich. Beschwörende Warnungen an den deutschen Gast, sich mit allen Mitteln gegen den Wahnsinn einer preisorientierten Wissenschaftsfinanzierung zu wehren. „Send them to our universities to learnfromthe results of thisnonsense.“ In England beginnt man Mitgefühl für die deutschen Unis zu empfinden, die durch die Bevorzugung der außeruniversitären Forschung an den Rand gedrängt werden. Die Leute kennen sich aus.

Frage an den einzigen Deutschen in der Runde: Warum existieren außeruniversitäre Forschungseinrichtungen immer noch, wenn doch ein wichtiger Grund längst nicht mehr gilt, nämlich die Spitzenforschung vor dem Chaos in den Universitäten zu schützen. Sie sind doch im Exzellenzwettbewerb nun restrukturiert. Wozu ist diese komplexe Struktur gut, wenn doch Topforscher genauso gut an den Universitäten arbeiten könnten? - „Das kann man nur historisch erklären." - Bessere Gründe fallen einem dazu nicht ein.

Die englischen Universitäten treten energisch für eine Revision der misslungenen Reformen ein und wünschen, dass Universitäten durchaus tun, was von ihnen erwartet wird: education, basic discovery research, development of top talents, established links world-wide, cooperation with industry. Aber auch dieses: reconsider relationships to companies and other institutions, reconsider the notion of truth, strengthen the development of leadership, morally and politically. Anerkennung und ein kleines bisschen Neid, dass Deutschland seine Mission noch nicht ganz vergessen hat: Bildung durch Wissenschaft. Was das heißen könnte? – In Einsamkeit und Freiheit? Was wäre das Bild der Persönlichkeiten, die eine solche Universität hervorbrächte?

Einer der großen alten Männer der britischen Wissenschaft und Politik, der Kant noch im Original gelesen hat, fasst es zusammen: „Menschen, die „wise“ genug sind, evidenzbasiert zu handeln, „Menschen, die „ethical“ genug sind, vertrauensvoll zu handeln, „Menschen, die „caring“ genug sind, die Freiheit zu verteidigen.“

Ob das der Politik genügen werde, fragt der sarkozygeschädigte Kollege aus Paris vorsichtig. In Frankreich werde immer häufiger der Nutzen der Universitäten in Frage gestellt. – Die Stimmung der Konferenz nach zwei Tagen ist entschlossen. Antworten auf solche Fragen liegen auf der Hand, zu viele. – Bis die Präsidentin der Nummer drei in der Weltrangliste der Universitäten den einen entscheidenden Satz sagt, der die anwesenden Politiker zum Schweigen bringt: „A university is as useful as a new born baby.“

Der Autor ist Präsident der Freien Universität Berlin