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Gefühle in der Geschichte

Ihr Forschungsgebiet verbindet Ute Frevert, Honorarprofessorin an der Freien Universität Berlin, mit dem Exzellenzcluster „Languages of Emotion“

Von Ute Frevert

Haben Gefühle eine Geschichte? Und: Machen Gefühle Geschichte? Diese Fragen stehen im Zentrum des Forschungsbereichs von Professorin Ute Frevert, Direktorin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Seit Beginn des Jahres ist Ute Frevert Honorarprofessorin an der Freien Universität, wo sie 1991/1992 eine Professur für Neuere Geschichte am Friedrich-Meinecke-Institut innehatte. Der Beitrag ist eine gekürzte Fassung einer Vorlesung, in der Ute Frevert ihr Forschungsgebiet umreißt.

Wenn wir Gefühlen eine Dynamik und Entwicklung zugestehen, dann liegt es nahe, sie als geschichtliche Phänomene anzusehen. Die Entwicklungsannahme bezieht sich ja nicht nur auf die Spanne eines einzelnen Menschenlebens, auf das, was mit uns zwischen Geburt und Tod passiert – und was Psychologen unter das Konzept des Lebenszyklus’ summieren. Die Annahme, dass sich Gefühle entwickeln und gebildet werden, bezieht sich auch und vor allem auf die Entfaltung der Menschen in Zeit und Raum, auf ihre Anpassung an neue Gegebenheiten und Herausforderungen, auf generationenübergreifende Lernprozesse und Verhaltensänderungen. Hier lautet die Kardinalfrage zugespitzt so: Können wir davon ausgehen, dass Gefühle uns eine Brücke bauen über Zeit und Raum hinweg? Dass wir Ötzi verstehen können, weil seine Gefühle identisch sind mit unseren, seine Angst identisch mit unserer, seine Freude identisch mit der unsrigen? Oder sollen wir eher dafür plädieren, Gefühle selber als veränderbar, als historisch variabel anzusehen? Sollen wir annehmen, dass Ötzi vor anderen Dingen Angst hatte als wir heute? Dass er diese Angst möglicherweise anders empfand – weniger intensiv oder stärker? Und dass er seine Angst anders auszudrücken wusste – kontrollierter oder weniger kontrolliert, lauter oder leiser, destruktiver oder konstruktiver?

Diese Fragen können wir Ötzi nicht mehr stellen, was nicht heißt, dass sie nicht für andere Epochen der Menschheitsgeschichte heuristisch fruchtbar sind. Schon die Antike hat uns ausreichend Quellen beschert, an die wir unsere Fragen herantragen können: Texte, Bilder, Bauwerke. Diese Quellen sprudeln lebhafter und ergiebiger, je mehr wir uns der Neuzeit nähern. Und sie lassen erahnen, dass wir nicht so einfach auf unseren Gefühlen in vergangene Gesellschaften hineinspazieren können. Wovor wir heute Angst haben, war Menschen des 18. Jahrhunderts unvorstellbar, und umgekehrt. Fürchtete man sich damals vor Hexen und dem Scheintod, ängstigen wir uns vor Klimawandel und Atomtod. Nicht nur der Gegenstand wechselte, sondern auch die Art und Weise, wie Menschen ihren Empfindungen Ausdruck verleihen: durch Gesten, Sprache, Lieder, kollektives Handeln, Rituale, Demonstrationen.

Diese Ausdrucksformen wiederum wirkten sich auf die Empfindung selber aus, vornehmlich auf ihre Intensität und Dauer. Ob und in welchem Medium ich Angst bekunde, ob ich starke oder schwache Worte benutze, dramatische oder undramatische Metaphern, das beeinflusst das Angstgefühl, verstärkt oder vermindert, verlängert oder verkürzt es. Auch wem gegenüber ich meine Angst ausdrücke, spielt eine Rolle: Welche Kommunikation schließt sich an, was möchte ich erreichen, welche Reaktion will ich hervorrufen? Wer kann mich zum Beispiel, wie ich mich ausdrücke, verstehen? Gerade über Gefühle und deren Mitteilung treten Menschen ja miteinander in Kontakt, nehmen Beziehungen auf oder brechen sie ab. Das setzt voraus, dass Gefühle auf eine Weise kommuniziert werden, die beim Gegenüber ankommt. Der Ausdruck von Gefühlen folgt also kommunikativen Regeln, und diese Regeln wiederum haben Rückwirkungen auf die Empfindungen selber.

Zugleich sind die Regeln weder universell noch überzeitlich gültig. Sie unterscheiden sich von Epoche zu Epoche, von Land zu Land. Versetzen wir uns etwa 200, 250 Jahre zurück, bleiben aber am gleichen Ort. Damals las tout Berlin – seine gebildeten Bewohner zumindest – mit Vorliebe sentimentale Romane; Goethes „Werther“ war ein Kassenschlager. Man schwelgte in „Empfindsamkeit“ und pflegte den Kult der Träne. Tränen galten als Ausweis wahrer Empfindung und kullerten immerzu, auch bei Männern und in aller Öffentlichkeit. „Das weinende Saeculum“ hat man das 18. Jahrhundert auch genannt. Ein Säkulum später war eine solche Tränenseligkeit undenkbar geworden, vor allem für Männer. Sie wurden jetzt aufgefordert, ihre Gefühle zu kontrollieren, ja keine Schwäche sprich Tränen zu zeigen, hart, gefasst und rational aufzutreten.

Klassisch beheimatet sind Gefühle natürlich in der Psychologie. Warum also soll uns diese Geschichte als Historiker interessieren?

Was ich mir davon erhoffe, ist eine „zweite Versuchung“. Die erste Versuchung sind die Neurowissenschaften, die die experimentelle Psychologie seit einigen Jahren umgarnen. Ihr Versprechen, Emotionen in Abhängigkeit von Hirnstrukturen zu untersuchen und zu erklären, hat zweifellos etwas Faszinierendes.

Demgegenüber besteht die zweite Versuchung, die der Geschichte, darin, Gefühle, Emotionen, Passionen in ihren jeweiligen und historisch wechselnden Erfahrungskontexten aufzuspüren. Der sprachliche und nichtsprachliche Ausdruck von Emotionen (denken wir an Musik, Bilder, Gesten und Tanz) zeigt eine ungeheure Vielfalt, sowohl sozial als auch zeitlich und räumlich. Kinder drückten und drücken ihre Gefühle anders als aus Erwachsene, Frauen anders als Männer, Migranten anders als Einheimische. Unterschiedliche Kulturen legen unterschiedliche Regeln des emotionalen Ausdrucks fest. Der Ausdruck aber, davon geht die kulturwissenschaftliche Emotionsforschung aus, prägt die Emotion selber – die ohne Ausdruck möglicherweise gar nicht existiert.

Gefühle sind geschichtsmächtig, und zwar auf mehrfache Weise. Zum einen machen sie das, was man „große Geschichte“ nennt: Revolutionen zum Beispiel. Können wir uns 1789 oder 1917 – oder auch 1989 – ohne Gefühle vorstellen? Ohne Angst, Empörung, Wut, Enttäuschung, Euphorie? Diese Gefühle waren nicht einfach nur „da“, sondern sie wurden angeheizt, kanalisiert, zurückgedrängt, kollektiv verstärkt. Menschen bestätigten sich in ihren Gefühlen, sprachen einander Gefühle ab, steigerten sich in Gefühle hinein. Politiker spielten auf der Klaviatur von Gefühlen – mal mehr, mal weniger virtuos und erfolgreich. Manche forderten gar eine völlig neue Gefühlskultur – die neue Gesellschaft, hieß es 1789 ebenso wie 1917, brauche neue Menschen mit neuen Gefühlen.

Geschichtsmächtige Gefühle wie Ehre und Schande, Stolz und Scham haben im Forschungsbereich „Geschichte der Gefühle“ am Max-Planck-Institut einen festen Platz. Aber auch Angst, Liebe und Vertrauen – nicht weniger geschichtsmächtig – werden behandelt, in verschiedenen sozialen, zeitlichen und räumlichen Kontexten.

Die Rede von Ehre und Schande zum Beispiel, wie sie im Kontext von Krieg, Sieg und Niederlage – aber auch im Kontext von Geschlechterbildern und Familienkonflikten – auftaucht, diese Rede weist in Europa und darüber hinaus bestimmte Ähnlichkeiten auf. Aber sie unterscheidet sich auch, in ihrer Zeitstruktur, ihren sozialen Trägern und ihren Handlungsfolgen. Was diese Unterschiede konkret hervorruft, ist nur durch genaue, und das heißt komplexe und kontextbezogene Analyse herauszufinden.

Wir arbeiten eng mit den Kollegen des Exzellenzclusters „Languages of Emotion“ der Freien Universität zusammen, aber auch mit anderen Institutionen in und rund um Berlin, die sich mit Gefühlen befassen: dem Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, dem Einstein-Forum, dem Centre Marc Bloch. Vielleicht kommen noch mehr hinzu. Emotionen wirken, das wissen wir, ansteckend – Emotionsforschung ja möglicherweise auch.