Die Entzündung bekämpfen, bevor sie schmerzt
Chemiker der Freien Universität wollen gemeinsam mit Pharmaunternehmen eine neuartige Therapie gegen chronische Entzündungskrankheiten an Patienten testen
Bilder von Entzündungen in elffacher Vergrößerung liefert das Rheumascan-Kamerasystem.
Bildquelle: Fotos:mivenion GmbH, Helios Klinikum, PTB Berlin
Früherkennung einer Entzündung von Gelenken durch das Rheumascan Kamerasystem
Von Sabrina Wendling
Ein Schnitt in den Finger oder eine falsche Bewegung genügen, und das Gewebe ist verletzt. Der Körper reagiert mit einer schmerzhaften Entzündung. Viele Menschen mit chronischen Entzündungen wie Rheuma oder Arthritis leiden Tag für Tag unter diesen Schmerzen. Doch im Kampf gegen dauerhafte Entzündungen verspricht ein Makromolekül jetzt neue Hoffnung. Gemeinsam mit einem Pharmaunternehmen arbeiten Wissenschaftler der Freien Universität Berlin an einer neuartigen Therapie gegen chronische Entzündungskrankheiten.
Der Name des Wirkstoffs klingt kompliziert, die Idee dahinter überzeugend einfach: Polyglycerolsulfate heißen die Makromoleküle, die verhindern sollen, dass Entzündungszellen ins Gewebe gelangen. Entdeckt hat die entzündungshemmende Wirkung des Moleküls die Arbeitsgruppe „Organische und Makromolekulare Chemie“ um Professor Rainer Haag an der Freien Universität. Vor Kurzem hat das Berliner Pharmaunternehmen mivenion GmbH die Lizenz zur klinischen Weiterentwicklung erworben – in nur einem Jahr soll das Verfahren erstmals am Menschen getestet werden. Vorausgesetzt, der neue Wirkstoff erfüllt die strengen Anforderungen an neue Arzneistoffe, wäre eine Therapie an Menschen mit chronischen Entzündungserkrankungen nicht mehr in allzu weiter Ferne.
Ganz unterschiedliche Krankheiten wie Schlaganfall, rheumatoide Arthritis, Asthma bronchiale oder chronische Entzündungen der Haut sollen mit dem Polyglycerolsulfat therapiert werden können. Zudem wollen die Forscher der Freien Universität gemeinsam mit der mivenion GmbH eine Früherkennung der altersbedingten Makuladegeneration (AMD), einer Form von Altersblindheit, ermöglichen. Der Chemiker ist beeindruckt von der Dynamik der Zusammenarbeit – vor fünf Jahren wurde die entzündungshemmende Wirkung des Polyglycerolsulfats entdeckt, 2010 soll das Medikament an Patienten getestet werden: Ein Sprint in der medizinischen Zeitrechnung.
Im Jahr 2005 erkannten die Chemiker der Freien Universität in Zusammenarbeit mit Jens Dernedde und Professor Rudolf Tauber vom Zentralinstitut für Laboratoriumsmedizin und Pathobiochemie der Charité-Universitätsmedizin Berlin die entzündungshemmenden Eigenschaften des Polyglycerolsulfates. 2006 wurden die Forschungsergebnisse zum Patent angemeldet, und es wurde weiter geforscht – seit Januar 2008 in dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Sonderforschungsbereich 765 „Multivalenz als chemisches Organisations- und Wirkprinzip“. „Es ist erstmals gelungen, den therapeutischen Einsatz makromolekularer Wirkstoffe deutlich zu verbessern“, beschreibt Rainer Haag den Erfolg, „die Makromoleküle lassen sich in nur zwei Schritten herstellen, sie sind kostengünstig und robust.“
Immer wenn der Körper verletzt wird, schickt er weiße Blutkörperchen, sogenannte Leukozyten, zum Gefahrenort, um eingedrungene Krankheitserreger unschädlich zu machen und das verletzte Gewebe zu reparieren. Die „Blutpolizei“, wie die Leukozyten auch genannt werden, hat neben den erwünschten Effekten aber auch unerwünschte: Sie kann selbst für Entzündungen sorgen oder diese verstärken, indem sich die Leukozyten an den Zellwänden der Blutgefäße heften und von dort unkontrolliert ins Gewebe eindringen. „Dieser Kontakt fördert das Auswandern der weißen Blutkörperchen zum Entzündungsherd und verstärkt so weiter den Entzündungsreiz“, erläutert der Chemiker. Genau hier kommen die Polyglycerolsulfate zum Einsatz: Die Makromoleküle verhindern, dass sich weiße Blutkörperchen und Entzündungsboten – andere biochemische Substanzen, die die Entzündungsreaktion verstärken – an den Zellwänden der Gefäße anheften und von dort aus ins Gewebe gelangen.
Wie aber funktioniert das? „Ein einfaches molekulares Bäumchen entsteht in einer effizienten Synthese. Unser molekulares Bäumchen, das dendritische Polyglycerolsulfat, wird zusätzlich mit Sulfatgruppen dekoriert“, erklärt Haag. Die Sulfatgruppen, die im Modell wie Baumblätter an den äußeren Verästelungen des Makromoleküls sitzen, dienen als Wechselwirkungspartner, um Stoffe zu binden. Durch die multivalente Wechselwirkung der Polyglycerolsulfat-Makromoleküle mit den Entzündungsstoffen wird erfolgreich verhindert, dass diese den Entzündungsreiz verstärken. Der Schmerz wird bekämpft, bevor er entsteht.
Zwar werden akute Entzündungserkrankungen und Autoimmunerkrankungen schon seit Jahren mit makromolekularen Wirkstoffen behandelt. Diese werden aber in biotechnologischen Verfahren hergestellt und sind deshalb teurer als die synthetisch produzierten Makromoleküle. Darüber hinaus hemmen die biologisch hergestellten Stoffe effektiv nur einen Signalweg der Entzündung; eine Entzündungsreaktion wird aber von vielen verschiedenen Prozessen begleitet. Das von der Arbeitsgruppe um Rainer Haag entdeckte Polyglycerolsulfat kann mehrere Signalwege gleichzeitig blockieren.
Der Wissenschaftler vergleicht den Zusammenhang mit der Funktionsweise eines Klettverschlusses: Im Gegensatz zu klassischen Therapieansätzen, wo sich ein Wirkstoff wie ein Haken mit einem Rezeptor – einer Öse – verbindet, kommt es bei einem Klettverschluss durch den flächigen Kontakt vieler Häkchen mit vielen Ösen zu einer sehr starken, multivalenten Wechselwirkung. Die Rezeptoren an der Zelloberfläche werden daher über multivalente Wechselwirkungen blockiert und verhindern somit ein Auswandern der weißen Blutkörperchen.
In schon abgeschlossenen präklinischen Studien, etwa in der zellulären Toxikologie, hat sich das Polyglycerolsulfat bereits als sehr gut verträglich erwiesen. Die mivenion GmbH will die Erkenntnisse der Arbeitsgruppe der Freien Universität bis zu einer zweiten klinischen Phase entwickeln, in der das Polyglycerolsulfat am Menschen getestet wird.
In Zusammenarbeit mit einem weiteren Forschungsinstitut, dem Institut Berlin der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt, hat die mivenion GmbH ein so genanntes „Rheumascan“-Kamerasystem zur Frühdiagnose von Rheuma an den Händen entwickelt. Gemeinsam mit der Arbeitsgruppe von Rainer Haag ist die Suche nach spezifischen makromolekularen Farbstoffen, die sich zur Frühdiagnostik von Rheuma eignen, das Ziel in einem von der Investitionsbank Berlin geförderten Verbundprojekt. Das Funktionsprinzip von Rheumascan ist einfach: Leidet der Patient unter einer rheumatoiden Arthritis, einer entzündlichen Erkrankung der Gelenke, wird ihm ein fluoreszierendes Kontrastmittel in die Vene gespritzt. Das Kontrastmittel wird durch das Licht einer roten Leuchtdiode angeregt und dringt tief ins Gewebe ein. Die entzündeten Stellen im Gelenk verfärben sich und helfen dem Arzt, das Fortschreiten der Erkrankung frühzeitig zu erkennen. Durch neue diagnostische Farbstoffe erhoffen sich alle Projektteilnehmer, eine noch empfindlichere Diagnose zu ermöglichen.
Potenzial und Dynamik des Projekts haben Haag und seine Kollegen bewogen, den interdisziplinären Schwerpunkt „Nanomedizin“ an der Freien Universität zu initiieren. Ziel ist es, das Fach Chemie unter anderem mit Medizin, Pharmazie und Biophysik zu verknüpfen – die Erkenntnisse verschiedener Berliner Forschungsverbünde sollen auf diesem Wege schneller den Patienten zugute kommen.