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Special Relationship?

Von Dieter Lenzen

Die sogenannte Mobilität deutscher Studierender, das heißt die Bereitschaft außerhalb Deutschlands zu studieren, ist im internationalen Vergleich höher als die akademische Reiselust ausländischer Studierender in Richtung Deutschland. Die Zahlen deutscher Studierender im Ausland stiegen von 53 000 im Zeitraum 2001/2002 auf 75 000 im Zeitraum 2007/2008. Auch hat der Anteil deutscher Studierender die soeben von 46 Nationen im belgischen Leuven verabschiedete Quote von 20 Prozent bereits jetzt bei weitem übertroffen (30 Prozent!). Aber genügt das? Genügt es umgekehrt, wenn 188 000 der rund zwei Millionen Studierenden in Deutschland im Jahr 2007 Bildungsausländer waren, also nicht einmal zehn Prozent? Zweifel kommen auf. Warum? Ein Großteil der deutschen Auslandsstudierenden macht keine allzu weiten Reisen.

Zu den bevorzugten Zielen gehören die Niederlande mit 12 000 Studierenden, das Vereinigte Königreich mit 11 800 oder Österreich mit 9600, gefolgt von der Schweiz mit 7500. Gerade einmal zehn Prozent von ihnen besuchen die USA. Ein Georg-W.Bush-Effekt? Kann sein. Aber jetzt ist Obama an der Macht, und die USA bleiben ein spannendes Land für deutsche Akademiker. Das zeigt sich im Gegensatz zu den Studierenden bei den Wissenschaftlern. Die Ziffer ist seit dem Jahr 2000 konstant bei über 5000 pro Jahr. Sie macht fünf Prozent der ausländischen Wissenschaftler in den USA aus; Deutschland wird nur noch von Japan mit 5,4 Prozent überboten.

Gibt es einen neuen Provinzialismus? Wohl eher nicht, denn dann wäre das große Interesse der Professorinnen und Professoren an den USA schwer erklärbar. Können uns aus akademischer Sicht die Vereinigten Staaten egal sein? Erst recht nicht. Seit fast einem Jahrzehnt ergibt sich unter der neuen Präsidentschaft nämlich zum ersten Mal die Möglichkeit einer neuen „Special Relationship“ mit den USA auch im akademischen Bereich. Es bedeutet aber auch, dass Europa, dass Deutschland amerikanischen Bildungseinrichtungen keineswegs mehr als kleines unfertiges Geschwisterkind gegenübertreten muss, das bittstellend darauf hofft, an den Erkenntnissen einer akademischen Spitzenindustrie teilhaben zu dürfen. Nicht mehr kann es darum gehen, sich in Bewunderung und Faszination zu erschöpfen, ebenso wenig wie ein „Ruf“ in die USA für deutsche Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer länger mit dem Aufstieg in den Pantheon gleichzusetzen ist. Inzwischen gibt es nämlich durchaus ein nennenswertes Interesse amerikanischer Gelehrter an einer Tätigkeit an deutschen Universitäten, wenngleich nicht immer mit ganz realistischen Vorstellungen.

Worauf es deshalb jetzt ankommt, auch und gerade in der Obama-Periode, ist die Etablierung eines fairen akademischen Austausches auf gleicher Augenhöhe, eine Brain Circulation, von der alle profitieren. Es umschließt auch das Verständnis von Wissenschaft als solcher: Neben aller Zustimmung zu Leistung und Qualität – und gerade wegen ihr – muss dem Glauben an die schiere Arithmetik der Qualitätsmessung eine zweite Qualitätslogik beigesellt werden, die sich auf eine jahrtausendealte europäische Universitätsgeschichte und auf den Siegeszug der aus ihr entstandenen Humanitas berufen kann. Es ist die Logik der Reflektion, des intelligenten Arguments, der klaren Einsicht, neben und jenseits statistischer Daten, der Kraft von Visionen für das bessere Leben. Denn dafür wird Wissenschaft gemacht, sei sie evidenzbasiert oder gründend auf dem besseren Argument, das eine darf nicht gegen das andere ausgespielt werden, Empirie gegen Theorie ebenso wenig wie US-amerikanische Wissenschaft gegen europäische Reflektionstradition.

Der Autor ist Präsident der Freien Universität Berlin.