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Rätsel um das Dach der Welt

Wissenschaftler der Freien Universität erforschen gemeinsam mit ihren chinesischen Kollegen die Entstehung der Tibetischen Hochebene

In 5000 Metern Höhe umfließt der Brahmaputra-Fluss den 7782 Meter hohen Namche Barwa. Hier liegt das Arbeitsgebiet der Berliner Geologen.

In 5000 Metern Höhe umfließt der Brahmaputra-Fluss den 7782 Meter hohen Namche Barwa. Hier liegt das Arbeitsgebiet der Berliner Geologen.
Bildquelle: Mark Handy

Von Christa Beckmann

Es ist eine abgeschiedene Welt, geheimnisvoll, karg und so hoch gelegen, dass sie Europäern den Atem nimmt: Durchschnittlich 5000 Meter über dem Meeresspiegel erstreckt sich die Tibetische Hochebene, das höchste Plateau der Erde.

Das „Dach der Welt“, das an drei Seiten von gigantischen Bergketten gesäumt wird, lockt nicht nur Abenteuerreisende und Extremkletterer. Es ist auch eine Herausforderung für die Wissenschaft. Denn die Frage, wie die Hochebene von der Größe Europas entstanden ist, gibt Geoforschern bis heute Rätsel auf. Deutsche Wissenschaftler, darunter auch Geologen der Freien Universität Berlin, suchen nun gemeinsam mit ihren chinesischen Kollegen nach Antworten.

„Jeder Geologe träumt einmal davon, in einem Extremgelände dieser Erde arbeiten zu dürfen“, sagt Mark Handy, „und Tibet gehört zweifellos dazu: 14 bis 15 Achttausender, noch mehr Siebentausender und Schluchten doppelt so tief wie der Grand Canyon. Fantastisch!“ Der Geologie-Professor der Freien Universität Berlin macht aus seiner Begeisterung für den Ort seiner Forschungen keinen Hehl.

Die Region, in der Mark Handy und sein Team arbeiten, ist denn auch ein Ort der Superlative. Sie liegt im Südosten von Tibet, dort, wo die Himalaya-Gebirgskette an ihrem östlichen Ende eine 180-Grad-Kehrtwende macht. Wie eine Schlinge hat sich der Brahmaputra-Fluss an diesem Punkt um den 7782 Meter hohen Berg Namche Barwa gelegt und kilometertief in das Gestein gegraben.

Das spektakuläre Relief erlaubt den Forschern nicht nur gigantische Ausblicke, sondern auch Einblicke in sonst verborgene Welten. Denn hier hat die Erde ihr Unterstes zuoberst gekehrt. „Auf dem Gipfel des Berges finden sich Gesteine, die vor weniger als vier Millionen Jahren noch etwa 45 Kilometer tief unter der Erdoberfläche lagen“, sagt Handy. „Seit damals sind diese Steine fast 50 Kilometer hoch befördert worden. Das ist extrem schnell."

Bei den Zeugen aus der Tiefe handelt es sich um sogenannte Granulite, die bei Temperaturen von 800 bis 900 Grad Celsius und unter Drücken entstehen, die 14 000 Mal höher sind als unser Luftdruck. Die extremen Bedingungen sind Folge einer gewaltigen Kollision, die vor etwa 45 Millionen Jahren ihren Anfang nahm und noch heute andauert: Damals löste sich ein Landteil vom afrikanischen Kontinent und begann, nach Nordosten zu driften. Die Erdplatte, die das heutige Indien formt, prallte bei ihrer Drift gen Norden auf die Eurasische Platte, schob sich langsam darunter und türmte am Kollisionsherd eine gigantische Knautschzone auf: Den Himalaya und das nördlich anschließende Tibet-Plateau. Und der geologische Kraftakt geht weiter. „Indien driftet heute pro Jahr 20 bis 40 Millimeter nach Norden“, sagt Handy.

Umso dringlicher erscheint es, die noch offenen Fragen zu klären. Wie ist das Dach der Welt genau entstanden? Welche Rolle spielte das Klima dabei? Warum liegen Tiefengesteine heute ganz oben? Wie lassen sich diese Erkenntnisse für die Erdbebenvorhersage nutzen?

Um der Lösung näher zu kommen, haben die Forscher zwei Thesen aufgestellt. Die erste These geht davon aus, dass die starken Monsunregen über Millionen von Jahren so viel Gesteinsmaterial mit den Flüssen aus den Bergregionen abgetragen haben, dass die darunter liegenden Gesteinsschichten von Gewicht entlastet wurden, sich dadurch hoch schoben und durch Erosion freigelegt worden sind. Welche Spülkraft Flüsse wie der Ganges, der Indus oder der Brahmaputra haben, die in der Hochebene entspringen, zeigt der weltgrößte Schwemmfächer in der Bucht von Bengalen. Sechs bis sieben Kilometer dick und so groß wie halb Europa ist die Geröllschicht, die aus den Bergen dort ins Meer gespült worden ist. „Der Himalaya“, sagt Handy, „hat in einigen Gegenden die höchsten Erosionsraten der Welt.“

Doch bisher weiß niemand Genaues über das Klima in dieser Region während der vergangenen Millionen Jahre. Die Untersuchungen zur Entstehung der Tibetischen Hochebene, die als Schwerpunktprogramm von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert werden, beziehen sich deshalb nicht nur auf die geologische Genese des Gebietes, sondern auch auf die Entwicklung des Naturraums. Wann sind die zahlreichen Seen dort entstanden? Und sind sie eine Folge des Klimageschehens vergangener Zeiten? Stimmt die These, dass das Tibet-Plateau noch vor 20 000 Jahren weitgehend mit Gletschern bedeckt war? Diesen Fragen gehen Handys Kollegen an der Freien Universität, der Paläobiologe Frank Riedel und sein Team, gemeinsam mit Forschern der Universität Gießen und der Chinesischen Akademie der Wissenschaften nach. Erste Ergebnisse genetischer Untersuchungen an Wasserschnecken aus den tibetischen Seen zeigen, dass einige der Tierpopulationen seit Millionen von Jahren auf dem Tibet-Plateau existieren. „Es kann also keine ausgedehnte Bedeckung mit Eis gegeben haben“, sagt Riedel.

Die klimatischen Bedingungen könnten aber möglicherweise auch eine Folge der Gebirgsbildung und nicht die Ursache sein. Davon zumindest geht die zweite These aus. Sie besagt, dass das Tibetische Hochplateau durch tektonische Kräfte im Erdinneren nach oben geschoben worden ist. Der Grund: Mithilfe von Erdbebenwellen haben Geophysiker herausgefunden, dass ein Teil der bis zu 100 Kilometer dicken Gesteinsschicht der indischen Platte, die sich unter Tibet geschoben hat, in den darunter liegenden Erdmantel absinkt. Die so von Gewicht entlastete Gebirgskette bewegt sich aufwärts. „Ähnlich wie ein Boot, das im Wasser höher kommt, wenn der schwere Anker über Bord geworfen wird“, erklärt Handy. Durch den „Auftrieb“ werde das darüber liegende Gestein hoch gedrückt, durch Wasser, Eis und Wind erodiert, und so die ursprünglich tiefliegenden Gesteine freigelegt.

Die Granulit-Funde am Berg Namche Barwa spielen aber möglicherweise auch eine wichtige Rolle beim Versuch, die Ursachen von Erdbeben in dieser Region zu klären. Denn die Steine enthalten auskristallisierte Überreste von Magma, und die könnte nach Ansicht der Wissenschaftler aus einer Region tief unterhalb des nördlicher gelegenen Plateaus stammen. Dort sind die Temperaturen besonders hoch, weil die Erdkruste unter dem Hochplateau verdickt ist und zusätzlich von der Wärme aus dem Erdmantel aufgeheizt wird. Der Druck und die Hitze lassen das Krustengestein in der Tiefe teilweise schmelzen, und es entsteht ein weiches, mit Schmelze gefülltes „Gesteinskissen“, auf dem die darüberliegende Tibetische Hochebene wie auf einem Pudding gleitet. Sie kann so auch den Kollisionskräften der herannahenden indischen Platte nachgeben und nach Osten ausweichen – mit fatalen Folgen für Mensch und Umwelt. „Das große Erdbeben im Mai 2008 in der chinesischen Provinz Sichuan hat genau auf der Zugbahn der Gesteinsmasse gelegen“, sagt Geologe Handy.

Doch noch haben die Wissenschaftler nicht viel mehr als Hypothesen. Was sich genau geologisch unter dem Dach der Welt abspielt, müssen die weiteren Forschungen zeigen. Das DFG-Projekt, das von Deutschland und China gefördert wird, läuft noch bis 2012. Beteiligt sind insgesamt 16 Forschergruppen unterschiedlicher Fachrichtungen und Universitäten, darunter auch die Universitäten Potsdam, Freiberg, Tübingen, Göttingen und die Chinese Academy of Sciences in Peking.

Für November planen Handy und sein Team eine längere Expedition nach Tibet. Vielleicht kommen sie der Lösung des Rätsels um das Dach der Welt dann ein Stück näher.