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Galateas wunder Punkt

Der amerikanische Schriftsteller Richard Powers lehrt in diesem Sommersemester an der Freien Universität Berlin

Von Markus Edler

Der US-amerikanische Schriftsteller Richard Powers – hierzulande spätestens seit dem großen Erfolg seines Romans „Der Klang der Zeit“ (2004) einem größeren Publikum ein Begriff – ist zweifellos ein poeta doctus. Ein gelehrter Autor, der in seinen Büchern entlegene Zitate aus der Weltliteratur und einen großen historisch-kulturellen Wissensschatz verarbeitet. Wer seinen ersten, noch nicht ins Deutsche übersetzten Roman „Three Farmers on Their Way to a Dance“ liest, sollte beispielsweise die Fotografie von August Sanders kennen, die 1914 entstand und drei festlich gekleidete Bauern aus dem Westerwald auf einem Feldweg zeigt. Powers zieht von dem „Tanz in den Mai“, zu dem die porträtierten Jungbauern gehen, eine Verbindungslinie bis zu jenem „Tanz“, in den der von Powers verehrte Thomas Mann den Helden seines „Zauberbergs“ am Ende entlässt: den Ersten Weltkrieg.

Die Begegnung mit Powers’ literarischem Universum berührt freilich noch ganz andere Regionen: Teilchenphysik, künstliche Intelligenz, Neurowissenschaften, Genetik, Informatik – das sind neben der Musik diejenigen Wissensgebiete, in denen der Autor zu Hause ist. Aus ihnen gewinnt er nicht nur das Material seiner Romane, sondern auch die Regeln für deren ästhetisches Programm. Der Marquardt’schen Behauptung, ästhetische, autonome Kunst diene nur mehr der Kompensation des Wirklichkeitsverlustes in der modernen Wissens- und Industriegesellschaft, widerspricht Powers seit fast 25 Jahren. In einem Interview beklagte der Schriftsteller denn auch die Folgen wissenschaftlicher Spezialisierung und bekannte, dass seine wesentliche Motivation, Bücher zu schreiben, aus seiner Überzeugung stamme, dass die Literatur das ideale Medium des „letzten Generalisten“ sei.

Powers’ Kunst besteht darin, seine Romane nach dem Modell neuronaler Netze zu organisieren. Sie richten sich nicht mimetisch an einem Wirklichkeitsausschnitt aus – sei dieser nun eine akademische Disziplin oder eine privilegierte Erzählperspektive. Sehr viel ambitionierter versuchen sie stattdessen, die Funktionsweise des Gehirns selbst abzubilden. Die permanente Adaption der verschiedenen Gehirnteile – Powers nennt es „rewriting“ – und die stets mögliche Revolution hierarchischer Strukturen innerhalb eines solchen Netzes liefern das Vorbild für die Techniken des Erzählens, mit denen Powers seine Leser herausfordert.

Galatea 2.2. ist nicht etwa der Name eines neuen Betriebssystems, sondern Powers’ 1997 in deutscher Übersetzung erschienener Roman. Der Titel bezieht sich auf die Kunstgestalt par excellence: auf die durch den Bildhauer Pygmalion erschaffene Statue, in die sich Pygmalion verliebt und die schließlich lebendig wird. Nur dass die Version 2.2 von Galatea keine Statue mehr ist, sondern ein Supercomputer, den seine von ihm verführten Programmierer liebevoll „Helen“ nennen. Das literarische Experiment Galatea 2.2. treibt Richard Powers bis an den Punkt, an dem sich zeigt, dass der Rechner trotz beeindruckender lexikalischer und syntaktischer Virtuosität an den einfachen Fragen scheitert. Denn dem Computer fehlen die körperliche und emotionale Erfahrung – die Möglichkeit zum Beispiel, beim Wort „Baum“ mitzudenken, wie schwierig es ist, einen Baum zu erklimmen, und wie glücklich man sich fühlt, wenn man schließlich triumphierend in seiner Krone sitzt. „Helen“ kann die emotionale Dimension menschlicher Erfahrung nicht erfassen, und sie kann sich auch nicht verlieben.

„Ich möchte große Teile des intellektuellen Raums für den Roman erschließen – ohne dafür den Raum des Emotionalen preiszugeben“, sagt Richard Powers. Ein Experiment, das der Autor in diesem Sommersemester an der Freien Universität zu vermitteln versucht: Er hat die 1998 eingerichtete Samuel-Fischer-Gastprofessur für Literatur am Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft inne und hält ein Seminar zum Thema: „Faktische Fiktion und fiktive Fakten“ – zum Verhältnis zwischen Literatur und Wissenschaften führt direkt zur Arbeit des Exzellenzclusters „Languages of Emotion“.

Hier wird die Zusammenarbeit von Geisteswissenschaftlern und experimentell arbeitenden Forschern systematisch gefördert. Sein interdisziplinärer Ansatz macht ihn zum idealen Gesprächspartner für Emotionswissenschaftler, deren Forschungsprogramm auf Galateas „wunden Punkt“ im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit von neuronalen Netzen zielt: die Verbindung von Sprache und Gefühl.

Der Autor ist Literaturwissenschaftler an der Freien Universität und Programmleiter des Exzellenzclusters „Languages of Emotion“.