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Katzenjammer nach der Euphorie

Mehrheit der Ostdeutschen erinnert sich inzwischen mehr an gute als an schlechte Seiten der DDR

Von Klaus Schroeder

Die erste freie Wahl zur DDR-Volkskammer im März 1990 demonstrierte eindrucksvoll, dass eine breite Mehrheit der Ostdeutschen die schnelle Wiedervereinigung wollte. Das Streben nach Freiheit und Wohlstand war zu diesem Zeitpunkt stärker als die vermeintlichen Bindungskräfte des alten Systems. Bald folgte jedoch auf die Euphorie der Katzenjammer: Spätestens seit Mitte der neunziger Jahre, als die schnelle Angleichung des Wohlstands ins Stocken geriet, wurde die im Kern imponierende Vereinigungsbilanz von einer negativen öffentlichen Stimmung überschattet.

Die damalige Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl entschied sich für einen konsumorientierten Transformationspfad, was die Sozialsysteme nachhaltig belastete, den Ostdeutschen aber binnen weniger Jahre eine wahre Wohlstandsexplosion bescherte. Ihr durchschnittliches Haushaltseinkommen erreichte schnell 80 bis 90 Prozent des Westniveaus. Diese Weichenstellung führte zwangsläufig zu hohen materiellen Vereinigungskosten. Am Ende des Jahres 2009 dürften sich die Vereinigungskosten, die nur bis 1998 von der Bundesregierung detailliert ausgewiesen wurden, geschätzt auf brutto etwa zwei Billionen Euro oder netto etwa 1,6 Billionen Euro belaufen haben.

Wenn man die in der Bundesrepublik immer schon vorhandenen regionalen Ungleichheiten berücksichtigt, relativieren sich die auch 20 Jahre nach dem Mauerfall bestehenden Ost-West-Unterschiede im Wohlstand. Da viele Ostdeutsche aber weder dieses regionale Wohlstandsgefälle in Deutschland insgesamt sehen, noch ihre heutige Situation mit der in der DDR vergleichen, sondern am – von ihnen überschätzten – Wohlstand im Westen insgesamt messen, betrachten sie die Entwicklung nach der Wiedervereinigung eher skeptisch. Der Verfassungsauftrag des Bundes, „gleichwertige Lebensverhältnisse“ herzustellen, bedeutet nicht – wie oft angenommen wird - gleiche Einkommen oder individuelle Lebensverhältnisse, die ohnehin von zusätzlichen Faktoren abhängen. Es geht vielmehr darum, dass der Staat Rahmenbedingungen schaffen soll, die bei Infrastruktur, Bildung und in anderen Feldern Chancengleichheit ermöglichen sollen.

Die Schwierigkeiten des Vereinigungsprozesses und das Unbehagen an der Einheit können nur angemessen erklärt werden, wenn die jahrzehntelange Teilung und das Leben in diametral entgegengesetzten Gesellschaftssystemen berücksichtigt werden. Im Oktober 1990 standen sich zwei deutsche Teilgesellschaften gegenüber, die sich vor allem in Sozialstruktur und Alltagskultur stark unterschieden: Die alte Bundesrepublik war sozial und kulturell eine mittelschichtsdominierte Gesellschaft, die DDR eine verproletarisierte. Eine hochgradig individualisierte und pluralisierte, substanziell in den Westen integrierte Gesellschaft stieß auf ein institutionell sowjetisiertes, im mentalen Kern aber doch eher typisch deutsches Gemeinwesen in einem sehr herkömmlichen, eher altmodischen Sinn.

Die neuen Institutionen sind vielen Ostdeutschen fremd geblieben. Die Ernüchterung über die Realität führte nicht nur bei „ewig Gestrigen“ zu einer Renaissance sozialistischen Gedankenguts, auch Normalbürger sehen sich als vom Westen oder vom Kapitalismus unterdrückt und ausgebeutet. Angesichts der derzeitigen Finanz- und Wirtschaftskrise fühlen sie sich in diesem Empfinden bestätigt.

Eine Mehrheit der Ostdeutschen erinnert sich inzwischen mehr an gute als an schlechte Seiten der DDR. Im Nachhinein wird die DDR als ein Staat bewertet, in dem vieles besser gewesen sei als heute und in dem vor allem soziale Absicherung und Gerechtigkeit geherrscht hätten; die negativen Seiten werden zunehmend ausgeblendet. Eine breite ostdeutsche Mehrheit möchte einen Schlussstrich unter die Aufarbeitung von Diktatur und Stasi ziehen. Eine verklärende Sicht der Vergangenheit haben überraschenderweise nicht nur ältere ehemalige DDR-Bewohner, auch viele jüngere Ostdeutsche schließen sich dieser Auffassung an. Die im persönlichen Umfeld überlieferten Erinnerungen an das Leben in der DDR prägen somit die Geschichtsbilder derjenigen, die die DDR nur als Kinder erlebt haben oder gar nicht mehr.

Die idealisierte Wahrnehmung der DDR als menschliche sozialistische Gemeinschaft erfährt eine nachhaltige mediale Unterstützung durch das öffentliche Wirken früherer Funktionsträger, die eine erbitterte Vereinigungskritik üben, da sie über das mit dem individuellen Verlust an Status und Ansehen verbundenen Ende ihres Staates nicht hinwegkommen. Für sie ist die Kritik am vereinten Deutschland ein Stück Lebensbewältigung: Die grundsätzliche Kritik an der Vereinigung und der heutigen politischen und gesellschaftlichen Ordnung geht einher mit der Aufwertung und Verharmlosung der SED-Diktatur. Damit versuchen sie, die bittere Erkenntnis zu kompensieren, dass von der DDR institutionell wie materiell so gut wie nichts übrig blieb. Dies mag für die Betroffenen schmerzlich sein, lässt sich aber – unabhängig davon, wie individuelle Lebensleistungen generell beurteilt werden mögen – weder ändern noch wegdiskutieren.

Die Deutung der Vergangenheit verändert sich generell im Laufe der Zeit, sei es durch Erfahrungen, die die bisherige Interpretation in ein neues Licht stellen oder dadurch, dass andere Maßstäbe zur Betrachtung der Vergangenheit angelegt werden. Im Gegensatz zu den Zeiten der Teilung, während derer die Bundesrepublik für viele Bürger der DDR eine positive Vergleichsfolie darstellte, nimmt heute eine im Nachhinein idealisierte DDR diese Rolle ein. Die Unterlegenheit der sozialistischen Diktatur gegenüber dem freiheitlich-demokratischen System wird dabei ausgeblendet. Gerade diese Tatsache versperrt bei vielen eine angemessene Betrachtung und Beurteilung von System und Lebenswelt in beiden deutschen Teilstaaten. Während viele Westdeutsche sich die Überlegenheit ihres Systems auch persönlich zurechnen, empfinden viele Ostdeutsche die Kritik am System, also an der SED-Diktatur, als Herabwürdigung ihres Lebens. So misslang bisher weitgehend der Versuch, diese Diktatur zu delegitimieren.

Die Wiedervereinigung hat Deutschland insgesamt und damit die alte bundesrepublikanische Gesellschaft mehr verändert, als den meisten bewusst ist. Die Folgen zeigen sich in der Politik ebenso wie im alltäglichen Leben und den Einstellungen. Dabei ist das vereinte Deutschland nicht westlicher, sondern eher östlicher, eher linker als rechter, eher sozialdemokratischer als liberal-konservativer sowie eher staats- als marktbezogener geworden. Zwar existieren zwischen alten und neuen Bundesbürgern weiterhin deutliche Unterschiede in Einstellungen, Werteordnungen und politischen Auffassungen, aber der Veränderungsprozess läuft schon lange nicht mehr ausschließlich von West nach Ost, sondern in mancher Hinsicht in umgekehrter Richtung. Die „innere Einheit“ – gleichermaßen materiell wie wertemäßig - wird sich in den nächsten Jahren nicht auf dem alten westdeutschen Niveau einpendeln, sondern irgendwo zwischen Ost und West.

Der Autor ist Professor am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin und leitet die „Arbeitsstelle Politik und Technik“ und den „Forschungsverbund SED-Staat“. Vor Kurzem erschien von Monika Deutz-Schroeder und ihm das Buch: „Soziales Paradies oder Stasi-Staat? Das DDR-Bild von Schülern – Ein Ost-West-Vergleich“ 760 Seiten, München 2008.