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Auferstanden aus Ruinen

Zur Baugeschichte der Berliner Mauer

Von Olaf Briese

Wann fiel die Berliner Mauer? Erst im November 1989? Der wohl erste Mauerfall ereignete sich 1962. Am 11. Januar waren an zwei Stellen in der Mitte Berlins an der Kreuzung Scharnhorststraße/Boyenstraße Mauerteile in Richtung Westen abgebrochen. Solche „Mauerfälle“, die es aufgrund fehlender Fundamente oder mangelnder Abdichtung anfangs immer wieder gegeben hat, sind im militärischen Nachlass der DDR im Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg dokumentiert. Das Bundesarchiv ermöglichte es auch, die frühe Baugeschichte der Mauer näher zu untersuchen. So stellte sich heraus, dass es einen zwanglosen Übergang von einer „Generation“ der Mauer zur jeweils nächsten nicht gegeben hat. Vielmehr mussten deratige Übergänge in handfesten Interessenskonflikten durchgesetzt werden, sogar gegen interne Widerstände.

So wollte sich beispielsweise die für die Grenzsicherung in Ost-Berlin zuständige Stadtkommandantur einer architektonischen Stadtzerteilung geradezu entziehen. Die von ihr selbst ausgerufenen Etappen des Grenzausbaus in Berlin, endend mit der „3. Etappe“ vom 1. Juli bis 31. Dezember 1963, hielt sie für erfüllt. Die Grenze bestand vor allem aus Gräben und Stacheldrahtsperren. Eine tatsächliche Mauer gab es nur auf sehr wenigen Kilometern in der Innenstadt. Dabei sollte es aus Sicht der für Berlin zuständigen Militärbefehlshaber bleiben, und sie drängten vor allem auf zwei „Erleichterungen“. Erstens forderten sie den Abriss von Industrie- und Wohnanlagen, um ein effektives Schussfeld zu erhalten; dies sollte der Magistrat Ost-Berlins übernehmen. Zweitens drängten sie auf eine Verschärfung der Regelungen des Sperrgebiets sowie der Kontrollen im Vorfeld der Grenze; das sollte Aufgabe von Staatssicherheit, Polizei und sogenannten freiwilligen Grenzhelfern sein. Damit wollten die Militärvertreter den eigentlichen Grenzschutz mehr oder weniger auf andere Institutionen abwälzen. Einen systematischen Grenzausbau, gar mit Mauern, wollte sich die Stadtkommandantur nicht aufbürden. Das geschah natürlich nicht aus humanitären Erwägungen. Ziel war es, zur Tagesordnung des routinierten Grenzdiensts überzugehen, gestützt auf den Gebrauch von Schusswaffen.

Bei diesem von den Militärbefehlshabern erhofften Ende des Ausbaus blieb es aber nicht. Immer wieder hagelte es Vorwürfe der SED-Führung an das Verteidigungsministerium wegen der Flüchtlingswelle, etwa auf einer Sitzung des „Verteidigungsrates“ vom 29. Oktober 1964. Bereits ein wenige Wochen zuvor vorgelegtes Papier des Verteidigungsministeriums hatte kritisiert, die Mauer sei primitiv und in schlechter Qualität errichtet worden. Die Stadtkommandantur Berlin, die von diesem vernichtenden Urteil offenbar erfahren hatte, witterte Ungemach: Hastig wurden für Ende September/Anfang Oktober 1964 Mauer-Experimente auf dem Übungsplatz Streganz in der Nähe von Storkow angesetzt. Experimentalmauern wurden gebaut, und Soldaten mussten „Versuchskaninchen“ als Grenzverletzer spielen. Auf diesen Experimenten fußte ein Kostenvoranschlag für einen umfassenden Ausbau der Mauer, der dem Minister für Nationale Verteidigung am 29. Januar 1965 vorgelegt wurde. Ein Sofortprotokoll lässt die Handlungsabsichten erkennen: Man hatte vor, den Minister mit der damals unvorstellbar hohen Summe von 80 Millionen Mark der DDR für den Grenzausbau in Berlin zu schockieren. Ziel war, sich dem unliebsamen Modernisierungsauftrag zu entziehen. Das Ergebnis ist bekannt. Die Truppen wurden zu Mauerbauern, und die Mauer wurde aus der diktatorischen Sicht ihrer Erbauer immer ansehnlicher, moderner und effektiver – ein kostenverschlingender Moloch und ein bauliches Todesterrain.

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Religionswissenschaft der Freien Universität Berlin. Sein Forschungsprojekt zur Ästhetik der Berliner Mauer 1961-1989 wird durch ein Forschungsstipendium der Gerda-Henkel-Stiftung gefördert.