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Mit dem Fahrstuhl in den Weltraum

Wie Vision und Wissenschaft einander geprägt haben: Der Historiker Alexander Geppert spannt den Bogen von Jules Verne bis heute

27.07.2009

Von Stephan Töpper

„Der einzige Weg, die Grenzen des Möglichen zu finden, ist ein klein wenig über diese hinaus in das Unmögliche vorzustoßen.“ Was der Science-Fiction-Schriftsteller Arthur C. Clarke 1962 als Grundsatz der Science-Fiction-Literatur formulierte, beschreibt den Pioniergeist, mit dem Wissenschaftler, Raumfahrtingenieure und Weltraumenthusiasten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Traum von der Besiedelung des Universums vorantrieben. „Noch heute schöpfen wir aus dem Reservoir dieser Weltraum-Visionen von vor mehr als 50 Jahren“, sagt der Historiker Alexander C. T. Geppert, der am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität die Geschichte europäischer Weltraumvorstellungen und des außerirdischen Lebens im 20. Jahrhundert erforscht.

Jules Verne überquerte als einer der Ersten bereits 1865 die Grenze zum Unmöglichen, als er die Reise zum Mond mehr als 100 Jahre vor Neil Armstrong und der Apollo 11 romanhaft vorwegnahm. Er blieb nicht der Einzige, der die Utopie von der Mondfahrt fiktional verarbeitete: Der britische Schriftsteller H.G. Wells veröffentlichte 1901 den Roman „Die ersten Menschen auf dem Mond“, ein Jahr später erschien der 16-minütige Film über die Reise zum Erdtrabanten des französischen Filmpioniers Georges Méliès. 1929 hatte Fritz Langs letzter Stummfilm „Die Frau im Mond“ im Berliner Ufa-Palast Premiere.

Fantastische Vorstellungen und ernstzunehmende Weltraumwissenschaft profitierten voneinander. Die Wissenschaft nutzte die Imagination als Inspirationsquelle. Und Filmemacher wie Fritz Lang legten umgekehrt Wert auf eine wissenschaftlich genaue Darstellung technischer Details. Herrmann Oberth, der 1923 die Grundlagen der bemannten Raumfahrt schuf, beriet Fritz Lang, als es um den Start und die Landung eines Raketenschiffs ging. Literatur und Film hatten Anteil daran, dass der breiteren Öffentlichkeit der Gedanke an einen Weltraumflug bereits in den 1920er Jahren als realistische Möglichkeit erscheinen musste.

Die Entwicklung von Weltraumraketen wurde vor allem durch den Zweiten Weltkrieg und später den Kalten Krieg vorangetrieben. Die Raketeningenieure mussten Visionen kreieren und Träume verkaufen, um an Geld zu gelangen, mit dem sie Raketen tatsächlich entwickeln und nicht nur auf Papier planen konnten. „Ohne die Angst, dass die Sowjets die Amerikaner überholen würden und umgekehrt, wären längst nicht solche ungeheuren Ressourcen in die Weltraumforschung investiert worden“, sagt Geppert. Viele Raketeningenieure emigrierten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in die USA, die das entfachte Weltraumrennen mit der Mondlandung im Juli 1969 für sich entschieden. „Ob es einen spezifisch europäischen oder amerikanischen Blick auf den Weltraum gibt, lässt sich deshalb schwer ausmachen“, sagt Geppert. So war Wernher von Braun führend an der Entwicklung der Vernichtungsrakete V2 für das NS-Regime beteiligt. Nach 1945 stellte er sein Weltraumwissen in den Dienst des US-amerikanischen Raketenprogramms.

„Man hat früh erkannt, dass das eigentliche Problem nicht die Befahrung des Weltalls ist, sondern die Überwindung der irdischen Schwerkraft“, sagt Geppert. Älter als die Idee, direkt auf dem Mond zu landen, sei deshalb der Plan gewesen, zunächst eine Weltraumstation im erdnahen Orbit zu bauen und dauerhaft zu besiedeln. Die Idee dahinter war, nach und nach kleinere Lasten in den Weltraum zu transportieren, um in der Schwerelosigkeit mit geringerem Aufwand Weltraumschiffe zusammenzusetzen und von dort zur Kolonialisierung des Kosmos aufzubrechen – mit dem Mars als nächstem Ziel. Hatte man Mitte des 20. Jahrhunderts mit den Visionen von einer Weltraumstation noch regelmäßige Ferienausflüge auf den Mond oder den Mars verbunden, weckt die seit 1998 real existierende Weltraumstation ISS – das teuerste zivile Projekt der Menschheitsgeschichte – kaum mehr Zukunftsvisionen wie in den 1950er Jahren, dem eigentlichen „Goldenen Zeitalter der Raumfahrt“.

Die von Konstantin Ziolkowski erstmals 1895 vage formulierte Idee von einem Weltraumfahrstuhl sollte auf eine noch einfachere, elektromechanische Art der Schwerelosigkeit ein Schnippchen schlagen. Clarke, der in seinem 1979 veröffentlichten Roman „Fahrstuhl zu den Sternen“ den Weltraumfahrstuhl fiktional verwirklichte, beklagte sich, wie abschätzig damals Experten darüber befanden, was technisch möglich sei und was nicht – und dabei immer wieder aufs Gründlichste Lügen gestraft wurden – „mitunter noch ehe die Tinte aus ihren Federn ganz trocken war.“ Von der Öffentlichkeit beinahe unbemerkt wird die Entwicklung eines Weltraumfahrstuhls bis heute mit großer Ernsthaftigkeit weiter verfolgt.

„Insgesamt sind wir sehr viel nüchterner und realistischer geworden“, sagt Geppert. „Man sucht auf dem Mars gar nicht mehr nach Leben, sondern nach Wasser, also den Voraussetzungen für Leben.“ Je mehr wir wissen, desto mehr schrauben wir unsere Erfolgskriterien zurück. Unsere Kenntnisse über den Weltraum sind enorm gewachsen, nachdem Kopernikus im 16. Jahrhundert die Erde vom Zentrum des Sonnensystems an die Peripherie beförderte. Und so schrumpfen mit zunehmender Komplexität der Welt unsere Visionen. „Unsere Gegenwart ist zukunftsbesessen, aber nicht sehr utopiefreundlich“, sagt Geppert. „Seriöse Weltraumwissenschaftler halten sich deshalb heutzutage mit konkreten Vorhersagen über die Besiedelung des Weltalls oder die Existenz außerirdischen Lebens eher zurück.“

Schaut man auf die unbemannte Raumfahrt, so haben sich viele der Zukunftsvisionen aus den 1930er und 1940er Jahren verwirklichen lassen. „Arthur Clarke hatte bereits 1945 die Idee, drei Satelliten im Erdorbit zu stationieren, um so ein weltweites Kommunikationsnetz aufzuspannen“, sagt der Historiker. Ohne solche Kommunikations-Satelliten gäbe es heute kein Satellitenfernsehen, keine Navigationssysteme, keine Mobiltelefone. „Was Arthur Clarke so früh erdacht hat, wurde wegweisend für die unbemannte Raumfahrt“, so Geppert. Dass er mit der Vorhersage, die Menschheit werde bis zum Jahr 2000 eine Mondkolonie errichtet und den meisten Planeten unseres Sonnensystems einen Besuch abgestattet haben, ein wenig vorschnell war, hat Arthur Clarke selbst noch erkennen müssen. Vorsorglich formulierte er einst: „Wenn alle meine Prophezeiungen überzeugend erscheinen, dann ist es mir gewiss nicht geglückt, allzu weit vorauszuschauen.“