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Bevor Schüler zu Tätern werden

Projekt soll schwere Gewalt und „School Shootings“ verhindern helfen und die Sicherheit erhöhen

09.10.2009

Von Kerrin Zielke

Erfurt 2002, Emsdetten 2006, Winnenden im März 2009, Ansbach im September dieses Jahres. Amokläufe an Schulen hinterlassen nach dem ersten Schock ein diffuses Gefühl der Bedrohung – und die vage Meinung, dass solche Taten in immer kürzeren Abständen geschehen. „Es hat den Anschein, dass die Zahl solcher schwerer Gewaltdelikte seit zehn Jahren zunimmt“, sagt Herbert Scheithauer, Professor für Psychologie an der Freien Universität Berlin. „Doch wenn man überhaupt von einem Trend sprechen kann, dann von einem mit sehr kleinen Fallzahlen.“ Weltweit gebe es rund 100 dokumentierte Fälle, die meisten davon in den USA, etwa zehn in Deutschland. Doch führten diese Taten zu großer Verunsicherung, selbst wenn diese äußerst selten seien.

Herbert Scheithauer erforscht Gewalt an Schulen; kürzlich wurde ein neues Präventionsprojekt im Rahmen der Sicherheitsforschung der Bundesregierung bewilligt. Das Vorhaben wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung über drei Jahre mit 1,128 Millionen Euro gefördert. Wie viele andere Wissenschaftler spricht Herbert Scheithauer nicht von „Amokläufen an Schulen“, sondern von „School Shootings“ – selbst wenn die Täter wie in Ansbach keine Schusswaffe einsetzen – oder von „schwerer zielgerichteter Gewalt“. Denn anders als bei Amokläufen sind Handlung und Ablauf geplant und die Opfer keineswegs zufällig. Ein weiteres Merkmal sei, dass Jugendliche ihre Taten im Vorfeld andeuteten oder sogar ankündigten, sei es durch Zeichnungen im Schulheft, Tatfantasien in Internet-Blogs oder Drohungen auf dem Schulhof.

Solches „Leaking“ oder „Durchsickern“ von Zeichen, Fantasien und Plänen hat Herbert Scheithauer innerhalb eines inzwischen abgeschlossenen Forschungsprojekts erfasst. Mit einem Team sichtete er Hunderte von Dokumenten und Berichten und wertete sie aus, darunter die Protokolle des Amoklaufs von Emsdetten. Zwar deutet sich jedes School Shooting vorher an – das aber stellt sich so klar erst in der retrospektiven Sicht dar. Doch nicht jede Fantasie führt auch zur Tat, und umgekehrt ist es schwierig festzustellen: Ist eine Kritzelei „nur“ eine Vorstellung oder Vorbote einer Gewalttat? An wen können sich Lehrer auf der Suche nach Rat wenden? Wie können professionelle Netzwerke – etwa die unterschiedliche Sicht von Mitarbeitern schulpsychologischer Dienste und der Polizei – dabei helfen, auf gefährdete Jugendliche richtig zu reagieren?

Innerhalb des neuen Forschungsprojekts will Herbert Scheithauer solche Netzwerke in den Blick nehmen: Als Grundlage soll – mit einem Unterauftrag an die Fachhochschule der Polizei des Landes Brandenburg – eine Studie von 120 Schulen in Berlin, Brandenburg und Baden-Württemberg entstehen. Sie soll Vergleiche ermöglichen zwischen unterschiedlichen Herangehensweisen in der Schulung von Lehrern im Umgang mit Drohungen, Tatfantasien und tatsächlicher Gewalt in einer Großstadt, einem ländlich geprägten Bundesland und einem Flächenstaat. Zumindest in den USA gebe es die Hypothese, dass School Shootings eher in einer kleineren oder mittleren Stadt vorkämen, sagt der Psychologe. Ein Grund könnte sein, dass Schüler im ländlichen Raum ohne Anschluss zu Gleichaltrigen voraussichtlich auf Jahre von Selbstbestätigung und Zugehörigkeit abgeschnitten seien – anders als in der Großstadt, in der es möglich wäre, die Schule zu wechseln oder dem Sportverein in einem anderen Stadtteil beizutreten.

Allerdings müsse man sich als Wissenschaftler vor schnellen Schlüssen hüten, berge doch der Forschungsgegenstand als solcher grundsätzliche Schwierigkeiten, sagt Herbert Scheithauer: Zwar seien School Shootings und andere Formen zielgerichteter Gewalt – auch „minder schwere“ Fälle – durch das vermehrte Auftreten überhaupt der Erforschung zugänglich, so makaber das klingen mag. Doch sei es schwierig, zutreffende allgemeine Aussagen auf Grundlage der geringen Fallzahlen zu treffen, und die allein mögliche rückblickende Betrachtung verleite zu irrtümlichen kausalen Verknüpfungen. Die Frage könne ohnehin nicht lauten: Wie erkenne ich einen School Shooter? Wissenschaftlich betrachtet werden könnten nur komplexe Konstellationen, im schulischen Alltag sei es unmöglich, potenzielle Täter zu erkennen, sondern allenfalls labile Schüler, die ein Risiko für sich oder andere werden könnten, sagt der Psychologe. Deshalb arbeitet er nicht mit einem Risikokatalog, bei dem sich Anhaltspunkte summieren, sondern mit differenzierten Analysen, sogenannten Threat Assessments, bei denen die Kombination verschiedener Merkmale zusammen mit weiteren Faktoren Aufschluss geben soll über Gefährdungspotenziale. So könne beispielsweise ein unspezifisches Merkmal wie das Interesse für Waffen lediglich vorübergehend sein. Die Studienergebnisse sollen helfen, Schulungen für Lehrer und Pädagogen zu entwickeln oder zu verbessern. Ziel ist es zudem, flächendeckend Hilfsangebote aufzubauen, etwa eine Beratung per Telefon, die Pädagogen, Eltern oder Menschen im Umfeld in Anspruch nehmen können, denen das Verhalten eines Schülers oder eines Jugendlichen, der die Schule verlassen hat, auffällt. Solche „niedrigschwelligen Hilfsangebote“ und der Aufbau von professionellen Netzwerken sollen helfen, frühzeitig auf eine mögliche Bedrohung zu reagieren. Dass es unzureichend wäre, auf ein Verbot von Waffen oder Videospielen zu setzen, um die Sicherheit an Schulen zu erhöhen, hätten viele Politiker erkannt, sagt Herbert Scheithauer. Doch warnt er vor einem überzogenen und unprofessionellen Vorgehen gegenüber auffälligen Jugendlichen: Es könne gefährlich sein, aus Unwissenheit oder aufgrund mangelnder Hilfsangebote Anzeichen der Gewaltbereitschaft zu ignorieren. Gleichermaßen unheilvoll könne es aber werden, wenn Stigmatisierung aus einem gefährdeten Schüler erst einen Täter werden lasse.


Tagung mit Workshops

Schulungen gegen Gewalt

Eine mehrtägige Tagung für Wissenschaftler, Lehrer, Erzieher und Sozialpädagogen zum Umgang mit Aggression und Gewalt findet vom 6. bis 8. November 2009 in Berlin statt.

Die Organisatoren des „Workshop Aggression“ sind Professor Herbert Scheithauer von der Freien Universität Berlin und Professorin Angela Ittel von der Technischen Universität Berlin. Die Veranstaltung umfasst ein wissenschaftliches Programm mit Vorträgen von nationalen und internationalen Experten. Das praxisorientierte Programm bietet Workshops, in denen Pädagogen in der Präventions- und Interventionsarbeit mit Kindern und Jugendlichen geschult werden. Die Themen umfassen unter anderem Strategien gegen Mobbing in Schulen, den Einsatz der sogenannten Konfrontativen Pädagogik, die Anwendung eines evaluierten Bundesmodellprojekts zu häuslicher Gewalt sowie die Förderung von sozialen Kompetenzen mithilfe der Programme „fairplayer.manual“ und „fairplayer.sport“, die an der Freien Universität Berlin entwickelt worden sind. Die Praxis-Workshops finden am Sonnabend, 7. November, von 9.00 bis 17.30 Uhr statt und am Sonntag, 8. November, von 9.00 bis 14.00 Uhr. Die Kosten für einen 90-minütigen Workshop betragen 20 Euro, für einen zwei- bis dreistündigen 35 Euro.