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Den Alltag akustisch erleben

Arbeitsgruppe „Künstliche Intelligenz“ hat ein neues Informationsgerät für Blinde und Sehbehinderte entwickelt

09.10.2009

Von Sabrina Wendling

Sogar die Gebrauchsanweisung ist autonom: „Hallo, ich bin Steffi. Mir liegt es am Herzen, Sie mit diesem Gerät nicht zu verwirren, sondern Ihnen zu helfen. Ich bin aber auch nicht eifersüchtig, wenn Sie einmal ein Callcenter in Anspruch nehmen.“ Das Informationsgerät für Blinde und Sehbehinderte ist von der Arbeitsgruppe Künstliche Intelligenz am Institut für Informatik der Freien Universität entwickelt worden, Kooperationspartner sind die Deutschen Telekom Laboratories. Das Gerät liest E-Mails vor und lässt sich Briefe diktieren, gibt Auskunft über Zeit und Wetter und liest die Tageszeitung vor. „Vor allem war es uns wichtig, dass das Gerät preiswert ist und mehr kann als ein gewöhnliches Vorlesegerät für Blinde“, sagt Projektleiter Raúl Rojas, Informatik-Professor an der Freien Universität. Die Arbeitsgruppe Künstliche Intelligenz baut Roboter von 40 Gramm bis zwei Tonnen Gewicht. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie höhere menschliche oder tierische Leistungen per Computer verwirklichen: Die Informatiker programmieren Fußballroboter, die jedes Jahr bei den Weltmeisterschaften im Roboterfußball antreten. Darüber hinaus haben sie ein autonomes Fahrzeug namens „Spirit of Berlin“ entwickelt, das sich mithilfe eines Navigationssystems und eines Positionslasers ohne Fahrer hinter dem Steuer im Verkehr bewegen kann. In Zusammenarbeit mit Biologen der Freien Universität bastelte die Arbeitsgruppe um Raúl Rojas auch eine Roboterbiene, die einen Bienentanz simulieren kann, um andere Bienen an einen bestimmten Ort zu locken.

Seit einem Jahr arbeiten die Informatiker der Freien Universität nun an einem Informationsgerät für Blinde, gemeinsam mit Dr. Pablo Vidales von den Deutschen Telekom Laboratories, wo die Vorstellung des Geräts stattfand, und dem Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenverein Berlin. Nicht zufällig fiel der Termin für die Präsentation von „InformA“ (kurz für „Information Appliance“) auf den 16. September: Vidales und Rojas sind beide Mexikaner, und dieses Datum wird in Mexiko als Unabhängigkeitstag gefeiert. „Unser Gerät wurde sozusagen auch unabhängig, denn von nun an wird es von 50 Blinden und sehbehinderten Menschen getestet“, sagt Vidales.

Die Vorlesegeräte für blinde und sehbehinderte Menschen, die es derzeit zu kaufen gibt, seien zu teuer und hätten zudem „reduzierte Funktionalität“, findet Rojas. 2008 erhielt er den Technologietransferpreis der Technologiestiftung Berlin für seine Forschung zur wirtschaftlichen Verwertbarkeit von Produkten. Mit dem Informationsgerät soll vielen Menschen der Alltag erleichtert werden. Genaue Zahlen über blinde und sehbehinderte Menschen in Deutschland gibt es nicht: Schätzungen auf Grundlage der Weltgesundheitsorganisation aus dem Jahr 2002 gehen von 1,2 Millionen blinden und sehbehinderten Menschen in der Bundesrepublik aus.

Norbert Zillmann ist 62 Jahre alt, seit 1976 ist er blind. Seine Ehefrau kann nur schlecht sehen, deshalb haben sie sich ein Gerät gekauft, das Schriftdokumente auf einem Bildschirm vergrößert darstellt. „Dort tauchen dann einzelne Wörter stark vergrößert auf“, sagt Zillmann, „aber einen ganzen Satz im Zusammenhang zu lesen, ist nur schwer möglich.“ Der 62-Jährige ist einer von 50 Blinden und Sehbehinderten, die „InformA“ über sechs Monate hinweg testen werden.

Das Gerät erinnert an eine Tischlampe, nur ist es bedeutend intelligenter: Es hat eine Ablage, von der Textdokumente fotografiert und per Internet an andere Rechner übertragen werden können. Auf Kopfhöhe des Nutzers befindet sich ein Metallarm, in dem Kamera und Mikrofon integriert sind. Wenn ein Dokument zu kompliziert für die automatische Texterkennung ist – wie zum Beispiel eine komplex formatierte Abrechnung –, kann der Nutzer über das Internet die Telefonverbindung zu einem Callcenter herstellen und ein Bild des Dokuments übertragen. Ein Zivildienstleistender des Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenvereins Berlin liest den Text dann vor. Alternativ kann das Dokument an Freunde oder Bekannte gesendet werden. Die Telefonverbindung erfolgt über das Internet.

Bedient wird „InformA“ mit einer kleinen Tastatur, über die man beispielsweise von der Wetter- zur Zeitansage oder zum E-Mail-Postfach kommt. Es funktioniert neben der Tastfunktion ausschließlich akustisch: Das Gerät verwandelt alle Textdateien in Audiodateien. Die Tageszeitungen „Der Tagesspiegel“ und die „taz“ stellen für den geplanten Feldversuch ihre Zeitungsausgaben als Textdateien zur Verfügung; das Informationsgerät verwandelt diese in Hördateien. „An dem Gerät reizt mich am meisten, dass mir jemand eine Zeitung vorliest“, sagt Norbert Zillmann. Dass das Gerät über das Internet funktioniert, gefällt dem Rentner: „Ich habe zwar noch nie mit dem Internet gearbeitet, aber ich freue mich richtig darauf, denn als ehemaliger Programmierer haben mich Computer schon immer begeistert.“