Springe direkt zu Inhalt

Die bitteren Früchte der Freiheit

Ein moderner Klassiker ohne verstaubtes Pathos: Am 10. November 2009 wäre Friedrich Schiller 250 Jahre alt geworden

09.10.2009

Von Peter-André Alt

In der zehnten Szene des dritten Akts zeigt Friedrich Schillers Trauerspiel „Don Karlos“ (1787) ein Kabinettstück des politischen Theaters: Ein zur Rebellion Entschlossener – der Malteserritter Marquis Posa – wird von König Philipp II., den er zu stürzen plant, zu einer Privataudienz geladen. Doch an deren Ende avanciert er – obgleich er den Souverän mit hochverräterischen Ideen überrascht hat – zum neuen Vertrauten der Krone. Er wird zum Getreuen, der künftig unangemeldet bei seinem König Gehör findet. Das Madrid des ausgehenden 16. Jahrhunderts, den historischen Ort seiner Tragödie, verwandelt Schiller in einen Schauplatz, auf dem die politischen Ideen des 18. Jahrhunderts um Vormacht streiten. Der Gedankenhimmel, den Marquis Posa vor den Augen des Königs, in dessen Weltreich die Sonne nie untergeht, beleuchtet, besteht aus zwei Fixsternen: Sie tragen die Namen der französischen Aufklärer Montesquieu und Rousseau. Von Montesquieu leiht Posa das Instrumentarium zur Analyse der politischen Systeme: Monarchien, so erläutert er in der Schlüsselszene des „Don Karlos“, lebten von der Ehrsucht der Höflinge, die aus der Hand ihres Herrschers nur „Maschinenglück“ empfangen, nicht aber Freiheit; für ihn selbst besitze jedoch die Tugend einen „eignen Werth“; einen Wert, den der feudale Dienst niemals aufwiegen könne. In Montesquieus 1748 veröffentlichter Abhandlung „De l''esprit des lois“ („Vom Geist der Gesetze“), die er 1785 in Loschwitz genauer studierte, hatte Schiller das Muster für diese Zuordnung gefunden: Während in Monarchien allein die Ehre zähle, so führte Montesquieu aus, lebe die Republik – im 18. Jahrhundert zugleich ein Synonym für den „Staat“ – von der Tugend ihrer Bürger. Posas Ideal der „Gedankenfreiheit“ – das Schiller aus einer Formel Voltaires herleitet –, stützt sich auf die feste Überzeugung, dass der Staat dem Menschen zu dienen habe, nicht aber der Mensch der Institution. Insofern verteidigt Posa in seiner couragierten Rede vor dem König keineswegs das Modell der verfassungsgestützten Monarchie, sondern - grundsätzlicher – die Autonomie des Individuums. Sie könne, so argumentiert er, zunächst im Raum seiner intellektuellen Selbstentfaltung und erst in zweiter Hinsicht auf der juristisch-politischen Ebene der Staatsordnung sichergestellt werden.

Der Posa der Audienzszene proklamiert eine intellektuelle Freiheit des Menschen, die der wahre Souverän zu schützen habe wie Gott die von ihm geschaffene Natur. Gegen diese Argumentation setzt der König ein Denkmodell, das aus dem Werk „Leviathan“ des englischen Staatstheoretikers und Philosophen Thomas Hobbes aus dem Jahr 1651 stammt: In seinem Staat, erklärt er, blühe „des Bürgers Glück in nie bewölktem Frieden“. Es ist das graue Programm der inneren Sicherheit, das hier zu Gesicht kommt: Glück entsteht durch Frieden als Zustand jenseits innerer und äußerer Kriege. Schillers Marquis Posa nennt dieses Stadium, in dem sich die Ordnungsutopie des absolutistischen Zeitalters enthüllt, die „Ruhe eines Kirchhofs“. Seine Kritik am Stabilitätsdenken des Monarchen Philipp verweist auf den zweiten Fixstern, der über Schillers großer Szene leuchtet, auf Rousseau. In dessen Schrift über den Gesellschaftsvertrag (1762) konnte Schiller auf Sätze stoßen, die sich seinem Gedächtnis einbrannten, weil sie ins Herz des Absolutismus zielten: „Man wird sagen, daß der Despot seinen Untertanen die bürgerliche Ruhe sichert. Mag sein; aber was gewinnen sie dabei, wenn die Kriege, die sein Ehrgeiz ihnen zuzieht, wenn seine unersättliche Gier, wenn die Mißhandlungen unter seiner Regierung sie elender machen als gegebenenfalls ihre eigenen Zerwürfnisse? Was gewinnen sie, wenn diese Ruhe gerade eines ihrer Leiden ist? Auch in den Verliesen lebt man in Ruhe, genügt das, um sich dort wohl zu fühlen?“. „Maschinenglück“, „Ruhe eines Kirchhofs“ – das sind Metaphern, die aus dem Arsenal von Rousseaus Anklagerhetorik stammen. Schiller bestückt seinen Malteserritter, einen spanischen Granden des 16. Jahrhunderts, mit den Argumenten der spätaufklärerischen Absolutismuskritik.

Posa allerdings, der Anwalt der Menschenrechte, verwickelt sich am Ende in den Schlingen seiner politischen Ambitionen. Was ihn antreibt, ist ein verdecktes Streben nach Macht. In diesem Streben, das sich durch die moralische Überlegenheit seines Idealdenkens sanktioniert glaubt, gerät er letzthin in den Sog der Intrige. Schiller spricht im Rückblick auf sein Drama vorsichtiger von Posas „Eigendünkel“ und „Stolz“, betont aber zugleich, dass gerade der Tugendrigorist geneigt sei, „ebenso willkürlich mit den Individuen zu schalten, als nur immer der selbstsüchtigste Despot“. Wenn der Marquis mit denselben Stategien der Unoffenheit und Verstellung operiert, die er an der höfischen Welt verwirft, reproduziert er zudem die Ordnung der Macht, die er vermeintlich attackiert: „Denn nichts führt zum Guten, was nicht natürlich ist“, diagnostiziert Schiller 1788. In den komplizierten Windungen der von ihm gesponnenen Intrige verfängt sich Posa selbst, weil er das unterschätzt, was der Germanist Max Kommerell, bezogen auf den Raum der politischen Handlungsethik, als die „Tragödie der Mittel“ bezeichnet hat. In dem Moment, in dem das Ideal der Menschenrechte auf den Weg der praktischen Umsetzung gebracht wird, gerät es in den Mahlstrom eines Systems, das den Autonomiegedanken missbraucht, Freiheit zum Werkzeug des Nutzens abwertet und den handelnden Menschen korrumpiert. Schiller hat, indem er den Marquis Posa als Anwalt einer neuen Monarchie der Freiheit versagen lässt, die Dialektik der Aufklärung und das Dilemma der Politik gleichermaßen vor Augen geführt.

Modern ist Schillers Drama nicht nur, weil es am Vorabend der Französischen Revolution bereits deren Umschlag in die Schreckensherrschaft vorwegnimmt und die Logik der Politik als Einschließung des Handelnden in einem Raum der Entscheidungszwänge kenntlich macht. Modern ist es auch, weil es in seiner atemberaubenden Schlussszene demonstriert, dass aus dem Wettstreit von Menschenrechten und Staatssicherheit nicht das Individuum als Sieger hervorgeht, sondern die Institution. Längst, so erfährt man, hatte die Inquisition den Malteserritter Posa, der in Schillers tragischem Finale unter den Kugeln der königlichen Garde zu Tode kommt, im Visier ihrer Beobachtungs- und Überwachungskartelle. König Philipp, der den Marquis aus Enttäuschung und Verbitterung über dessen Verrat töten lässt, habe, so hält ihm der Kardinal Großinquisitor in der Schlussszene vor, gegen die Interessen der kirchlichen Gerichtsbarkeit verstoßen: „Durch uns zu sterben war er da.“ Hier triumphiert die Autorität des Apparates über die des Königs, der seinen Fehler nur korrigieren kann, indem er seinen eigenen Sohn der Inquisition ausliefert. Aus dem Versagen der Personen geht die anonyme Ordnung der Macht, die in der Inquisition exemplarisch repräsentiert wird, gestärkt hervor. Weder der Idealist noch der Monarch, weder der auf Umsturz sinnende Hochverräter Posa noch der Herrscher Philipp haben ihr Ziel erreicht. Die Stabilisierung der bestehenden Verhältnisse bedeutet zugleich, dass das Gewicht der Institution als Symbol einer unpersönlichen Macht jenseits individueller Verantwortung zugenommen hat. Die Diagnose, dass dem modernen Menschen im Zeichen von Arbeitsteilung und Entfremdung nur noch durch ein „Formular“ vorgeschrieben werde, was er zu tun habe, stammt nicht, wie man vermuten könnte, von Karl Marx, sondern von Friedrich Schiller; sie findet sich in den Briefen „Ueber die ästhetische Erziehung“ von 1795 formuliert, am Schluss des „Don Karlos“ jedoch bereits vorgezeichnet.

Ein pessimistisches Ende, das kaum das Zeug dazu hat, das alte Vorurteil vom Idealisten Schiller zu bekräftigen. Stattdessen öffnet es den Blick auf politische Kräftefelder und Aktionsräume, die den Traum von der Freiheit des Individuums als Illusion erscheinen lassen. Noch ehe die blutige Schreckensherrschaft Robespierres anbrach und die Französische Revolution zur Tötungsmaschine verwandelte, hat Schiller – jenseits und vor der geschichtlichen Erfahrung – im „Don Karlos“ illustriert, dass die Macht die Ideen frisst, wenn diese Handlungsautorität gewinnen wollen. Solche Befunde vergegenwärtigen uns, dass Schiller ein moderner Klassiker ist, der kein verstaubtes Pathos zu bieten hat, sondern aufregende Einsichten in die politischen Verhältnisse der Neuzeit, die Abgründe des Menschen und die Widersprüche seines Autonomiestrebens. Am 10. November 2009 feiern wir seinen 250 Geburtstag.

Der Autor ist Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Direktor der Dahlem Research School der Freien Universität Berlin


Zur Person

Johann Christoph Friedrich von Schiller (1759–1805) gilt als einer der großen deutschen Schriftsteller. Viele seiner Theaterstücke zählen bis heute zum Standardrepertoire deutschsprachiger Theater und zum Schulkanon. Schiller, der auch bedeutende philosophische und historische Schriften vorlegte, zählt neben Wieland, Goethe und Herder zum Viergestirn der sogenannten Weimarer Klassik. FU