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Japanisch in 280 Bausteinen

Ein Computerprogramm hilft dabei, japanische Schriftzeichen wie Straßenschilder zu erlernen

12.10.2009

Von Eva Hundemer

Keines gleicht dem anderen. Das eine erinnert an ein Häuschen mit Spitzdach, ein anderes an ein springendes Strichmännchen. 1945 Schriftzeichen, die sogenannten Kanji, sind vom japanischen Kultusministerium zum täglichen Kommunikationsgebrauch festgelegt. Für Europäer gleichen sie einem chaotischen Labyrinth aus Strichen, Dreiecken und Quadraten. Und doch seien sie schnell erlernbar: Mithilfe eines Computerprogramms lasse sich das europäisch alphabetisierte Gehirn in kurzer Zeit und ohne japanische Sprachkenntnisse „kanji-ieren“. Das sagt Yoriko Yamada-Bochynek vom Ostasiatischen Seminar, Fachrichtung Japanologie an der Freien Universität. Die Wissenschaftlerin hat zusammen mit dem Programmierer Rainer Weihs und der Grafikerin Komatsu Natsumi das Programm zum elektronischen Lernen entwickelt.

„Frustration, Hilflosigkeit und Ohnmacht – das waren häufige Reaktionen beim Unterrichten der japanischen Kanji-Schriftzeichen bei Lehrenden und Studierenden“, erinnert sich Yoriko Yamada-Bochynek. „Denn es gelang nicht, die Zeichen systematisch zu übermitteln.“ Sie habe sich aufgrund der schlechten Didaktik beinahe schuldig gefühlt, sagt die Japanologin. Deshalb begann sie damals mit den ersten Versuchen, die Zeichen zu ordnen – vom Konkreten bis zum Abstrakten. Das war vor fast 20 Jahren.

Das Kanji-System funktioniert als Zeichensystem genauso wie Sprache. So entstand ein Lernprogramm, mit dem Ziel, Form und Bedeutung der Zeichen wie Verkehrszeichen auf Deutsch zu erlernen. 280 Bausteine kristallisierten sich heraus, aus denen der Aufbau aller 1945 Kanji erschlossen werden kann. "Das Kanji-Team taufte die Bausteine ,Genshi‘. „Das ist das japanische Wort für Atom oder kleinste Einheit“, erklärt Yamada-Bochynek. Auf dem Computerbildschirm zeigt sie auf das japanische Zeichen für Mund, das – mit etwas Fantasie – tatsächlich einem offenen Mund ähnelt. Durch Animation, wie im Trickfilm, zeigt das Computerprogramm abwechselnd das Bild eines Mundes und das Genshi-Zeichen für Mund. So merken sich die Studierenden, ähnlich wie beim Memory, schnell die Bedeutung. Durch Klicken auf das nächste Zeichen lernen sie „Auge“ und danach „Nase“. Das ist Teil eins der Genshi-Lektion „Gesicht“. Zwölf Genshi-Lektionen können auf diese Weise in weniger als zwei Stunden durchgenommen werden. Das Genshi für „Baum“ ähnelt tatsächlich einer Tanne. Zwei Bäume bedeuten „Wäldchen“ oder „Hain“, drei „Wald“. Es gibt aber auch schwerere Eselsbrücken: Das Wort „Magen“ setzt sich aus dem Zeichen für „Feld“ und „Fleisch“ zusammen. Beides füllt den Magen. Eines der Lieblingsbeispiele der Studierenden ist das Zeichen für „Ungeduld“: Es setzt sich aus den Wörtern „kleiner dicker Vogel“ und „Feuer“ zusammen. Als Gedächtnisstütze merkt man sich also, dass der Vogel ungeduldig über dem Feuer hin und her hüpft.

„Die Kanji werden wie Straßenschilder gelernt: Durch Wiedererkennen der Form, kombiniert mit der Kernbedeutung“, sagt Yoriko Yamada-Bochynek. 2007 wurde das Kanji-Team mit dem E-Learning-Preis der Freien Universität in der Kategorie „Einsatz in der Lehre“ ausgezeichnet. Der Preis wird vom Lenkungsgremium der Freien Universität vergeben. Seitdem können Studierende der Ostasienwissenschaften den Kurs „KanjiKreativ“ an der Freien Universität besuchen. Lehrende können und sollen durch das Programm nicht ersetzt werden. Der KanjiKreativ-Kurs setzt deshalb das sogenannte Blended Learning ein.

Das bedeutet, neben der Präsenzlehre steht computerbasiertes autodidaktisches Lernen auf dem Lehrplan. Die Studierenden im pan-asiatischen Bereich, in dem Kanji-Zeichen kulturhistorisch angewandt werden, lernen innerhalb eines Semesters, die Schriftzeichen zu entschlüsseln. Das bedeutet, dass sie die Bausteine erkennen und so ihre Bedeutung erschließen. Die Erfahrung aus den vergangenen Semestern zeigt, dass die Methode für „blutige“ Anfänger am besten geeignet ist, weil diese Kanji „spielerisch“ erlernen. Die Studierenden seien begeistert und würden nicht nur schneller lernen, sondern in den Tests und Prüfungen auch sehr gut abschneiden, sagt Yoriko Yamada-Bochynek. „Sozusagen von null auf 1945.“ Ihre Methode sei nicht nur für Europäer geeignet, sondern auch für japanische Schüler eine Innovation. Sie erlernten die Schriftzeichen während ihrer zwölfjährigen Schulzeit.