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Die Verkabelung der Welt

Mit der ersten transatlantischen Telegrafenverbindung 1866 veränderten sich die Beziehungen zwischen Alter und Neuer Welt

12.10.2009

Von Tomasz Kurianowicz

Als 1865 der amerikanische Präsident Abraham Lincoln von einem fanatischen Sympathisanten der Südstaaten angeschossen wurde, dauerte es ganze zwei Wochen, bis Europa von der Schreckensmeldung erfuhr. So lange nämlich benötigte ein Brief aus Nordamerika, um in der „Alten Welt“ anzukommen. Dieser Kommunikationsweg, der auf dem Wasserweg von den USA nach Europa führte, verkürzte sich erst, als einige abenteuerlustige Pioniere auf die tollkühne Idee kamen, mit einem gigantischen Schiff ein Tausende Kilometer langes Datenkabel auf dem Meeresboden des Atlantiks zu verlegen. Das war der Startschuss für die erste transatlantische Telegrafenverbindung, die 1866 in Betrieb genommen wurde und über die nunmehr Botschaften in nur wenigen Minuten übermittelt werden konnten.

Welche Konsequenzen diese Revolution aus kommunikationsgeschichtlicher Sicht hatte, soll jetzt das Projekt „Akteure der kulturellen Globalisierung“ klären, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wird. Die Historikerin Simone Müller von der Freien Universität Berlin betreut das Teilprojekt „Die transatlantische Telegrafenverbindung und die Verkabelung der Welt“ und promoviert über dieses Thema. Die Wissenschaftlerin vom John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien geht der Frage nach, welche sozialen und kulturellen Paradigmenwechsel die erste Übersee-Telegrafenleitung auslöste. „Erstmals war es möglich, ökonomisch und politisch wichtige Daten schnell und effizient zu übermitteln. Das war der Anfang der Globalisierung – denn in der Welt setzte sich eine neue Wahrnehmung durch. Das Gefühl von Zeit und Raum änderte sich drastisch“, sagt die Historikerin, die ihre Magisterarbeit an der Universität Würzburg abschloss und deren Dissertation von Michaela Hampf und Ursula Lehmkuhl, Professorinnen der Freien Universität, betreut wird. Die 27-Jährige interessiert sich vor allem für die Akteure auf beiden Seiten des Atlantiks, die von der technischen Innovation ökonomisch wie politisch enorm profitierten. „Es bildete sich ein einflussreiches Netzwerk aus Erfindern, Ingenieuren und Finanziers heraus, das über viele Jahre das Telegrafengeschäft steuerte und damit auch die Informationspolitik“, sagt Simone Müller.

In der Studie soll es neben wirtschaftlichen und politischen Aspekten jedoch vor allem um soziale und kulturelle Belange gehen. Deshalb will die Historikerin die zeitgenössischen Reaktionen untersuchen, die in den Gründungsjahren außerordentlich positiv ausfielen. Die Technikbegeisterung sei anfangs sogar so weit gegangen, dass Zeitungen den Weltfrieden auszurufen gewagt hätten. „Man glaubte, der schnelle Datentransport werde zur kulturellen Verständigung beitragen. Dieser Standpunkt änderte sich mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs: Plötzlich konterkarierte die Verstärkung nationalstaatlicher Interessen die Ziele der multinational organisierten Unternehmen. Auch dieser Wandel interessiert mich“, sagt Simone Müller, die das Projekt 2011 abschließen will.

Die erste transatlantische Telegrafenleitung war insofern ein fundamentaler Schritt auf dem Weg zu einer globalisierten und vernetzten Welt, als sie erstmals eine direkte Verbindung zwischen Nordamerika und Europa ermöglichte, die sowohl den ökonomischen, politischen und – wie das Projekt zeigen soll – kulturellen und sozialen Rahmen neu justierte. Vor allem im Journalismus begann eine umfassende Medienrevolution, an deren Ende sich eine völlig neue Öffentlichkeit herausbildete. Journalisten erschlossen durch die Errichtung der Telegrafenverbindung neue Informationsquellen, Zeitungen konnten schnell und unmittelbar von wichtigen Ereignissen auf der anderen Seite der Welt berichten – und die Öffentlichkeit reagierte mit großem Interesse. So folgte auf die Verkabelung der Welt eine enge Vernetzung der Welt, durch die sich die kulturellen, ökonomischen sowie die politischen Beziehungen auf dem Planeten neu formierten – an den Börsen, in der Diplomatie und in den Wohnzimmern.

Deutschland betrat den transatlantischen Schauplatz erst von 1890 an, obwohl mit den Siemens Brothers von Anfang an deutsche Akteure ganz zentral an den Atlantikkabeln beteiligt gewesen waren. Das vergrößerte Handelsvolumen mit den USA und die verstärkte Auswanderung erhöhten den Bedarf zu kommunizieren, zudem wurden im Deutschen Reich mittlerweile Kabel zu konkurrenzfähigen Preisen produziert. Die Vereinigte Deutsche Telegrafengesellschaft verlegte eine transatlantische Verbindung zwischen Greetsiel an der ostfriesischen Nordseeküste und dem irischen Valentia. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts reichte diese kommerzielle Verbindung aber nicht mehr aus, sodass deutsche Industrielle eine See-Telegrafengesellschaft damit beauftragten, ein Kabel von Emden nach New York zu verlegen. Die britische Regierung verweigerte jedoch die Erlaubnis, Stationen in Cornwall und auf den Azoren zu errichten. Wirtschaftliche Zusammenarbeit war der politischen Rivalität gewichen: Der Wettlauf um die Informationsherrschaft war nicht aufzuhalten.

Noch heute ist der bedeutsame Einfluss der ersten transatlantischen Telegrafenleitung erkennbar: Die modernen Glasfaserkabel, über die unsere Internetverbindungen funktionieren, sind an derselben Stelle im Atlantik verlegt wie die erste Datenleitung – auf dem sogenannten „Telegrafischen Plateau“. Dadurch wird besonders deutlich, wie wichtig die Errichtung der Telegrafenverbindung zwischen Europa und Nordamerika für die Entwicklung moderner Gesellschaften war. Wenn Simone Müller auf die einschneidenden Paradigmenwechsel aufmerksam machen will, verweist sie gern auf das Beispiel des bei dem Attentat von 1865 verletzten Präsidenten Lincoln. Als nämlich 16 Jahre später US-Präsident James A. Garfield von einer Pistolenkugel getroffen wurde, dauerte es nicht mehr Wochen, sondern nur noch Stunden, bis Europa von dem Attentat erfuhr und politisch auf die dramatische Botschaft reagieren konnte.

Jeden Tag standen in den Zeitungen Meldungen über den Gesundheitszustand des Präsidenten, der das Attentat überlebt hatte – mit teilweise kuriosem Inhalt. „Wenn man diese Texte heute liest, wirkt es geradezu absurd, mit welcher Genauigkeit europäische Journalisten über Blutdruck und Herzfrequenz des Verletzten informierten“, sagt Simone Müller, die historische Materialien und Dokumente aus jener Zeit für ihr Projekt auswertet. Doch genau das sei das Faszinierende an den Quellen: Sie gäben Aufschluss darüber, wie Menschen des späten 19. Jahrhunderts auf die technische Errungenschaft der neuen Telegrafenverbindung reagiert hätten. Zwar sei die Verbindung zunächst eine sehr teure Einrichtung für wenige, vor allem für die politische Klasse gewesen, dann aber habe sie den breiten Austausch zwischen den Menschen über die Grenzen von Kontinenten hinweg ermöglicht. Und das ist bis heute so, in einer Zeit, in der jedermann über das Internet mit aller Welt in Kontakt treten kann – über ein Medium also, das in der Tradition der transatlantischen Telegrafenverbindung steht.