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Der Soundtrack zum Erwachsenwerden

Sehnsucht nach Ekstase: Was das Schwärmen für Rock- und Popidole mit Ritualen zu tun hat

12.10.2009

Von Julia Kimmerle

Wenn Teenager die Rock- oder Popmusik für sich entdecken, sehen Nachbarn darin nur eine Lärmbelästigung, Lehrer den Spleen und Eltern eine Prüfung ihrer Toleranz. Ruprecht Mattig, Anthropologe und Ritualforscher, sieht in der Fankultur Jugendlicher dagegen vor allem eines: eine wichtige Entwicklungsphase der eigenen Persönlichkeit.

Es war laut, es war schrill – und für die damaligen Beobachter ein neues Phänomen: Auf der ersten USA-Tournee der Beatles 1964 fielen junge Mädchen, die zuerst ohrenbetäubend gekreischt oder vor Freude still geweint hatten, reihenweise in Ohnmacht. Der Spiegel schrieb damals nicht ohne Häme: „Wo sie (Anm. der Red.: die Beatles) niedergehen, fallen Massen minderjähriger Weiblichkeit über sie her und in eine Art von Trance, wie sie, nach Meinung von Kritikern, seit Franz Liszt nicht mehr dagewesen ist.“

Während zwischen Liszt und Lennon noch mehr als hundert Jahre Musikgeschichte lagen, hat sich die heutige Mediengesellschaft längst daran gewöhnt, dass Teenager zu Konzerten pilgern und Fans reihenweise in Ohnmacht fallen. Abhängig vom Outfit der jeweiligen Band wird die Farbe von Schnürsenkeln oder Fingernägeln zum musikalischen und politischen Glaubensbekenntnis. Was aber macht die Faszination der Stars der Rock- und Popmusik aus? Und warum werden Jugendliche zu Fans? Der Ritualforscher und Anthropologe Ruprecht Mattig ist in seiner Dissertation am Arbeitsbereich Anthropologie und Erziehung der Freien Universität Berlin diesen Fragen nachgegangen: „Ich wollte untersuchen, welche rituellen Funktionen eine Fankultur für Jugendliche erfüllt. Aus dieser Perspektive sind Rock und Popmusik bisher nicht untersucht worden.“

In den meisten traditionellen Gesellschaften markieren bestimmte Rituale den Übergang vom Kind- zum Erwachsensein. Bei indigenen Völkern etwa müssen Jungen bei sogenannten Initiationsriten Mutproben bestehen oder ihre Fähigkeiten als Jäger unter Beweis stellen. Während in Westeuropa bisweilen der erste Alkoholrausch beim Familienfest als ritueller Eintritt ins Erwachsenenalter gesehen wird, gilt der musikalische und getanzte Rausch bei Naturvölkern als probater Weg. Dass auch Teenager in modernen Gesellschaften bei Rockkonzerten ähnlichen Ritualen folgen, stellte Mattig während seiner Forschungsarbeit immer wieder fest: „Die Bereitschaft, sich von einem Idol und der Musik begeistern zu lassen, die Sehnsucht nach Ekstase ist bei allen Fans sehr groß.“

Der Wissenschaftler Ruprecht Mattig selbst interessierte sich als Teenager zunächst nur für die Musik solcher Stars, die es Ende der Achtziger Jahre schon längst nicht mehr gab: unter anderen die Beatles oder Elvis Presley. Später fuhr er zu großen Rockfestivals wie dem längst legendären Open Air-Konzert im dänischen Roskilde – nicht wegen einer bestimmten Band, sondern wegen des Lebensgefühls: „Ich habe eigentlich keine typische Fanbiografie. Trotzdem würde ich heute sagen, dass diese Festivalerlebnisse mich durchaus geprägt haben.“

Für seine Arbeit im Sonderforschungsbereich „Kulturen des Performativen“ der Freien Universität interpretierte Mattig qualitative Interviews mit Fans unterschiedlicher Musikrichtungen. Hierfür musste er zunächst die entsprechenden Begriffe aus der Kulturanthropologie identifizieren, die das Spannungsfeld von Jugendritualen und Fankultur beschreiben: Communitas als Gemeinschaft, die Anti-Struktur in traditionellen Jugendritualen, Zügellosigkeit und Zwiespalte, aber auch den „Kontakt mit dem Heiligen“ – dem Star – als Erfahrung von Transzendenz, die in der Popkultur auch eine wichtige Rolle spielt. Ein weiterer wichtiger Aspekt für Mattig ist „Ritual und Zauber“. Doch was kann aus Anthropologensicht zauberhaft daran sein, wenn Tausende Mädchen mit schwarzgefärbten Haaren in einem Fußballstadion den Auftritt der Teenie-Band Tokio-Hotel herbeikreischen?

Auch Mattig stellte sich diese Frage anfangs. Bis er mit Tokio-Hotel-Fans sprach. Ein Mädchen erzählte ihm von einem Konzert, für das sie stundenlang frierend mit einem kleinen Plakat vor der Halle anstehen musste. In dem Moment, als das Konzert begann, habe ihr der Sänger Bill Kaulitz direkt in die Augen gesehen. „Sie sagte, das sei der schönste Moment in ihrem Leben gewesen. Danach fiel sie in Ohnmacht“, berichtet Mattig. An der tiefen und ernsten Begeisterung dieses Mädchens habe er zum ersten Mal den Zauber, der alle Fans an ihr Idol bindet, nachvollziehen können.

Die Mediengesellschaft sei also gar nicht so arm an Ritualen, wie Kulturpessimisten wegen der schwindenden Bedeutung von Religion und der Schnelllebigkeit der Popkultur glauben. „Das gemeinsame Erleben von Musik ist ein Äquivalent für wegfallende traditionelle Rituale“, sagt Mattig. „Was man an der Fankultur feststellen kann, ist, dass es auch heute ein starkes Bedürfnis nach Ritualen und ekstatischen Erfahrungen und Gemeinschaftserlebnissen gibt. Rock und Pop füllen somit die Lücke, die durch den Wegfall traditioneller Rituale entstanden ist.“

Mattig stellte außerdem fest, dass Rituale unabhängig vom musikalischen Genre Bestand haben. Ein Kurt-Cobain-Fan habe mit einem Celine Dion-Verehrer aus Sicht der Ritualforschung mitunter mehr gemein, als beiden aus musikideologischer Sicht lieb sein dürfte: „Einerseits gibt es das Gemeinschaftserlebnis, das ich ,Unmittelbare Communitas‘ genannt habe. Den interviewten Fans von Herbert Grönemeyer oder Britney Spears war vor allem die unmittelbare Nähe zum Star wichtig, aber auch zu anderen Konzertgängern und Fans.“ Die andere Gruppe stellte für ihn eine „Ideelle Communitas“ dar. Diese Fans fühlten sich mit ihrem Star verbunden, weil er eine bestimmte Haltung verkörpere. „Das war bei Fans von Kurt Cobain und Xavier Naidoo sehr stark ausgeprägt.“ Mattig ist wichtig zu zeigen, dass es aus Sicht der Ritualforschung keine „gute“ oder „schlechte“ Fankultur gibt. Auch die herablassende Art, mit der Erwachsene häufig auf die jugendliche Musikbegeisterung reagierten, hält er für einen Irrtum – oder zumindest ein Missverständnis: „All das, was an diesen Gefühlsausbrüchen irrational oder „hysterisch“ erscheint, hat seine rituelle Berechtigung. Ich glaube, das müssen Eltern einfach akzeptieren – als wichtige und besondere Phase des Erwachsenwerdens.“

Ein tröstlicher Gedanke für alle Eltern pubertierender Rock-, Hip-Hop-, Gruft-, Indie-, Hardcore-, Metal- und Popfans. Denn ob für Robbie oder Rammstein geschwärmt wird, ist höchstens musikalisch strittig. Pädagogisch wertvoll ist beides.