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Spiel ohne Grenzen

Wissenschaftler der Freien Universität Berlin untersuchen die Verflechtungen von Theaterkulturen

12.10.2009

Von Christel Weiler

Was lernen Schauspieler in Schanghai, wenn sie sich mit Brecht beschäftigen? Welche Folgen hatte der Kolonialismus für das Theater Afrikas, Lateinamerikas, Indiens? Weshalb werden auf deutschen Bühnen keine marokkanischen Stücke gespielt? Wie kommt es, dass junge Berliner Türken das Theater für sich entdecken, während gleichaltrige Berliner Russen anscheinend kein Interesse daran zeigen? Was bewirkt die internationale Zusammensetzung von Tanzensembles?

Seit Oktober 2008 beschäftigen sich Wissenschaftler des Internationalen Forschungskollegs „Verflechtungen von Theaterkulturen“ an der Freien Universität damit, mögliche Antworten auf diese und ähnliche Fragen zu finden. Damit ist es für die Theater- und Tanzwissenschaft endlich möglich, auf wissenschaftlicher Ebene das zu tun, was auf den Bühnen der Welt längst geschieht: Die Begegnung mit anderen Kulturen als selbstverständliche Praxis zu begreifen und Fragen zu entwickeln, die nicht nur neues Wissen erzeugen, sondern auch das scheinbar Bekannte aus veränderter Perspektive neu erscheinen lassen. Die Forschung im Kolleg, das vom Bundesbildungsministerium gefördert wird, findet nicht im Elfenbeinturm statt: Die Wissenschaftler suchen den Kontakt mit den Berliner Theatern, ihren Dramaturgen, Intendanten und Regisseuren ebenso wie mit den Studierenden des Instituts. Die Studierenden der Theaterwissenschaft haben die Möglichkeit, die Fellows des Kollegs entweder durch Vorträge oder in Seminaren kennenzulernen, an denen diese mitwirken. In diesem Wintersemester beispielsweise sind die meisten von ihnen an einem Seminar im Masterprogramm beteiligt, in dem es um theatergeschichtliche Fragen aus globaler Perspektive geht. Wahrscheinlich zum ersten Mal während ihres Studiums werden die Studierenden hören, wie sich das marokkanische Theater entwickelt hat und zu welchen Theaterformen brasilianische Schauspieler und Regisseure nach dem Ende der Diktatur gefunden haben.

Das Forschungskolleg tritt auch an die Öffentlichkeit: Anfang Oktober gab es beispielsweise im Roten Rathaus eine von Tom Stromberg moderierte Podiumsdiskussion zwischen zwei Fellows, dem neuen Intendanten des Deutschen Theaters, Ulrich Khuon, und dem künstlerischen Leiter des Hebbel-Theaters, Matthias Lilienthal. Die Veranstaltung, die in Zusammenarbeit mit der Senatskanzlei stattfand, wurde von vielen Theaterschaffenden und -interessierten besucht. An dem vom Haus der Kulturen der Welt veranstalteten Festival Intransit waren ebenfalls Fellows beteiligt, und mit dem Goethe-Institut besteht eine enge Kooperation. Das Kolleg selbst ist ein Ort des Austausches und der gemeinsamen Arbeit. Bis zu zehn Fellows aus unterschiedlichen Kontinenten und Ländern kommen dort für maximal ein Jahr zusammen, um ihre „mitgebrachten“ Forschungsprojekte voranzubringen, aber auch, um in einen intensiven Dialog zu treten, der seinerseits neue Fragen aufwirft. Durch das Miteinander und das Betrachten einer Frage aus unterschiedlichen Perspektiven ist die eigene Forschungsrichtung somit immer wieder Korrekturen unterworfen.

Interessant ist, dass sich gegenwärtig auch die Berliner Theater verstärkt mit Themen beschäftigen, die in diesen Rahmen gehören: so zum Beispiel die Aufführung von „7% Hamlet“ am Deutschen Theater oder das im Ballhaus Naunynstraße und dem Hebbel-Theater stattfindende Festival „Beyond Belonging“, bei dem Probleme der Migrationsgesellschaft behandelt werden. Die Begegnungen mit anderen Kulturen finden also für das Publikum mittlerweile nicht nur bei den Vorstellungen von Gastspielen statt. Vielmehr werden auf den heimischen Bühnen Begegnungen inszeniert, die Fragen des Miteinanders aufwerfen oder die Missverständnisse zwischen den Kulturen ins Visier nehmen. Das Forschungskolleg etabliert somit einen Raum, in dem die im Theater stattfindenden Veränderungen einer kritischen Reflexion unterzogen werden. Gleichzeitig nimmt es daran teil, weitere Änderungen in Gang zu setzen.

Die Autorin ist akademische Oberrätin am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin.