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Neuer Blick auf alte Meister

12.10.2009

Von Frédéric Döhl

Das Jahr 2009 ist ein Jahr der Musik-Jubiläen gewesen: Gleich zu Beginn wurde es öffentlichkeitswirksam zum „Purcell-Jahr“ (350. Geburtstag) deklariert, zum „Händel-Jahr“ (250. Todestag), zum „Haydn-Jahr“ (200. Todestag) und zum „Mendelssohn-Jahr“ (200. Geburtstag), um nur die bekanntesten Namen zu nennen. Konzertreihen, Tagungen, Ausstellungen, Publikationen und Sonderseiten im Internet ließen die Erinnerung an die berühmten Komponisten aufleben.

Die Wiederkehr runder Geburts- und Todesjahre hat sich im Bereich der Klassischen Musik zu einem zentralen Phänomen entwickelt, mit dem Musik- und Buchverlage sowie Konzertveranstalter das Interesse an den Werken der verstorbenen Künstler steuern. Hier ist diese Zugriffsform auf die Vergangenheit weit stärker ausgeprägt als in anderen Künsten. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen: Auch wenn es heute – wie zu allen Zeiten – exzeptionelle Komponisten von Kunstmusik gibt, die von strikten Avantgardekonzepten bis zu postmoderner, stilistisch grenzüberschreitender Polystilistik faszinierende Musikerfahrungen schaffen, ist es nicht von der Hand zu weisen, dass nur einem Bruchteil der Zugang zu einer breiteren Öffentlichkeit gelingt. Man wartet nicht in dem Maße auf neue Orchesterwerke, Klanginstallationen oder Opern bestimmter Komponisten wie man es bei neuen Filmen oder Büchern mancher Regisseure oder Schriftsteller tut.

Hinzu kommt, dass sich im Feld der Musik nicht in vergleichbarer Weise eine Ebene zwischen Populärem und Intellektuell-Experimentellem ausgebildet hat. Also ein Raum, in dem sich Künstler bewegen, deren Werke als „State of the Art“ anerkannt und doch von einem breiteren Publikum angenommen werden, wie es etwa bei vielen Schriftstellern zu beobachten ist, die mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet werden.

Darüber hinaus ist das Interesse an Kunstmusik weithin auf das klassisch-romantische Repertoire unter Einschluss mancher Bereiche Alter Musik um Händel und Bach und früherer Komponisten konzentriert. Aus diesem Fundus kommt jedoch von den etablierten Komponisten – anders als im Jazz und vor allem in der Populärmusik – nur sehr selten etwas Neues auf den Markt, wenn zum Beispiel einmal in Archiven verschollene Musikstücke aufgestöbert werden konnten. Da von dem gängigen Repertoire außerdem unzählige exzellente Einspielungen vorliegen, vermögen es nur die größten Stars der jeweils aktuellen Klassikszene, einen ähnlichen Wirbel um Konzerte und Neuveröffentlichungen zu erzeugen, wie es manchen Musikern populärer Genres gelingt.

Jubiläen sind zwar oft Anlass für Spezialisten, sich unbekannteren oder vergessenen Komponisten zuzuwenden. Unübersehbar gilt die große Aufmerksamkeit jedoch gemeinhin den ohnehin bekannten Namen. Damit geht einher, dass das Format der Komponistenjubiläen zu einem nennenswerten Teil weniger der Musik dient als vielmehr der Selbstvergewisserung kultureller Leistungsfähigkeit.

Das Feiern des Genies setzt die Heroenmusikgeschichtsschreibung des alten Bildungsbürgertums des 19. Jahrhunderts fort. Verspielter, entgrenzter oder schlicht sinnlicher Zugang zu Klassischer Musik als alternativem oder wenigstens ergänzendem Rezeptionsweg wird damit nicht befördert. Insofern werden auch kein Unwissen und keine Berührungsängste abgebaut, die mit dafür verantwortlich sind, dass noch nicht einmal fünf Prozent aller Tonträger mit Kunstmusik in Deutschland im Jahr 2008 von Menschen gekauft wurden, die jünger als 30 Jahre waren.

Unter den Namen, die 2010 Jubiläum feiern, finden sich so renommierte Komponisten wie die 1810 geborenen Robert Schumann und Frédéric Chopin oder die 1860 geborenen Gustav Mahler und Hugo Wolf. Aber auch die vielleicht weniger bekannten Ignaz Jan Paderewski, 1860 geboren und zu Lebzeiten gefeierter Komponist und Pianist, oder Giovanni Battista Pergolesi, 1710 geborenes und jung verstorbenes italienisches Genie. Wenn Jahrestage das Gespür dafür zu verbreitern helfen, wie vielfältig die Welt Klassischer Musik ist, so ist doch viel bewirkt. In diesem Sinne gibt es 2010 wieder viele Gründe, auf Entdeckungsreise zu gehen.

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich 626 an der Freien Universität Berlin.