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„Ampeln“ für Elektronen

12.10.2009

Ingo Barth bei der Präsentation seines Vortrags.

Ingo Barth bei der Präsentation seines Vortrags.
Bildquelle: Christine Mahler

Von Christine Mahler

Der Seminar-Raum atmet Kreide. Bis auf das Klacken einer Tastatur ist nichts zu hören. Ingo Barth, der für seine Dissertation am Fachbereich Physikalische und Theoretische Chemie der Freien Universität Berlin mit dem Carl-Ramsauer-Preis der Physikalischen Gesellschaft zu Berlin ausgezeichnet worden ist, übt seine Präsentation für die Preisverleihung. Sein Dolmetscher beobachtet aufmerksam jede Geste. Bei der Vergabe des Preises, wird er den Vortrag übersetzen aus der Deutschen Gebärdensprache ins gesprochene Wort.

Bis ein Geräusch von einer 300 Meter entfernten Schallquelle an unser Ohr dringt, vergeht gerade einmal eine Sekunde. Ingo Barth, von Geburt an gehörlos, forscht in Zeitskalen im Attosekunden-Bereich. Eine Attosekunde entspricht dem trillionsten Teil einer Sekunde. Das ist die Zeitskala, in der sich Elektronen in Atomen bewegen. In seiner Doktorarbeit hat Barth die Effekte von zirkular polarisierten Laserpulsen auf Elektronenbewegungen untersucht, im System etwa vergleichbar mit einem Dynamo am Fahrrad. Die Lichtwellen – das entspräche der Drehung des Reifens – führen zu einer Bewegung der Elektronen in den untersuchten Molekülen. Der Laserpuls reguliert den Fluss der Elektronen ebenso wie eine Ampel den Straßenverkehr. Damit könnten Schaltungen auf unvorstellbar kleinen Skalen gebaut werden.

Barth ist zurückhaltend, was Prognosen über die Anwendbarkeit seiner Arbeit angeht: „Das ist Grundlagenforschung“, erklärt er. Eventuell aber könnten die Schaltungen auf der Skala von Atomen und Molekülen die Basis für einen Quantencomputer sein. Vor 60 Jahren, als Radioapparate die Größe von Mikrowellengeräten hatten, hätte man sich mp3-Player im Scheckkartenformat auch nicht träumen lassen.

In Deutschland gibt es kaum gehörlose Studenten. Während seines Physik-Studiums an der Technischen Universität Berlin unterstützte das Berliner Studentenwerk Ingo Barth mit Mitschreibkräften. Vorlesungen und Seminare bestanden für ihn zunächst aus Tafelanschriften und projizierten Folien sowie Mitschriften, ohne den erklärenden Text der Dozenten. Als er sich an der Freien Universität um eine Doktorandenstelle bewarb, war sein Doktorvater, Professor Jörn Manz, skeptisch. Er hatte keinerlei Erfahrung mit Gehörlosen und lehnte zunächst ab. Barth bewarb sich erneut, und erreichte, dass er für eine Probezeit von drei Monaten in die Forschungsgruppe aufgenommen wurde. Bereits nach einem Monat war für Jörn Manz klar, dass sein neuer Mitarbeiter Gold wert war.

Die Kommunikation mit den Kollegen handhabt Barth per E-Mail oder in Ausnahmefällen mit Hilfe eines GebärdenDolmetschers. In Deutschland gibt es davon nur eine Handvoll. Alle hatten seit ihrer Schulzeit nichts mehr mit Chemie oder Physik zu tun. Sie mussten angelernt und ausgebildet werden. Gemeinsam mit Ingo Barth entwickelten sie neue Gebärden für die speziellen Fachausdrücke der Quantenchemie, die bei Vorträgen und Tagungen gebraucht werden. Und für die Präsentation, für die Ingo Barth sich so gut vorbereitet hat. Während der Probe im Seminarraum hatte der Dolmetscher am Ende des Vortrags noch die offenen Hände neben dem Kopf gedreht: das Zeichen für Applaus. Bei der Preisverleihung war das nicht mehr notwendig. Das Publikum bedankte sich bei Ingo Barth mit sichtlich viel Beifall.