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„Die Archäologie liegt viel näher als man vermutet“

Interview mit dem Ägyptologen Stephan Johannes Seidlmayer über die Besonderheiten der „Feldarbeit“

31.05.2010

Felsgrab bei Assuan: Verstorbene vor reich beladenem Opfertisch (circa 1700 vor Christus).

Felsgrab bei Assuan: Verstorbene vor reich beladenem Opfertisch (circa 1700 vor Christus).
Bildquelle: Ägyptisches Seminar

Stephan Johannes Seidlmayer ist Professor für Ägyptologie an der Freien Universität Berlin und Direktor des Deutschen Archäologischen Instituts in Kairo.

Stephan Johannes Seidlmayer ist Professor für Ägyptologie an der Freien Universität Berlin und Direktor des Deutschen Archäologischen Instituts in Kairo.
Bildquelle: Stephan Töpper

Herr Seidlmayer, Sie sind nun seit etwas mehr als einem Jahr in Ägypten. Wie lebt es sich dort?

Ich war zum ersten Mal 1976 in Kairo und kenne Ägypten durch viele Aufenthalte schon recht lange. Als ich 2009 die Gelegenheit bekam, nach Kairo ans Deutsche Archäologische Institut zu gehen, war ich anfangs nicht so sicher, wie gut es mir auf Dauer gefallen würde. Heute bin ich uneingeschränkt begeistert. Ägypten ist ein wunderbares Land. Die Internationalität, um die wir uns in Berlin ständig bemühen, haben wir hier jeden Tag. Und die Ägypter sind die freundlichsten, entgegenkommendsten, humorvollsten Menschen, die man sich vorstellen kann.

Was macht das Deutsche Archäologische Institut in Kairo?

Wir sind ein Forschungsinstitut und arbeiten mit rund einem Dutzend Mitarbeiter daran, die Geschichte Ägyptens zu ergründen, die für die Identität dieses Landes von Bedeutung ist: von der Prähistorie über das pharaonische Ägypten, die griechisch-römische Zeit bis hin zum islamischen Ägypten und in die frühe Moderne hinein.

An welchen Projekten arbeiten Sie gerade?

Da ist zum einen unsere große Ausgrabung in Dahschur, südlich von Kairo, wo wir einen der großen Pyramidenfriedhöfe und inzwischen auch Teile einer monumentalen Pyramidenanlage ausgegraben haben. Ein Teil dieses Projekts, das über die Deutsche Forschungsgemeinschaft finanziert wird, ist an der Freien Universität, genauer gesagt am Exzellenzcluster TOPOI, angesiedelt.

Wie sieht die Zusammenarbeit im Einzelnen aus?

Wir kooperieren im Rahmen dieses Projekts mit Professorin Brigitta Schütt und Wiebke Bebermeier von der Physischen Geografie der Freien Universität. Durch ihre geografische Perspektive geben sie dem Projekt eine neue Richtung. Die Geografen erschließen den Blick für den historischen Wandel der Landschaft. Erst dadurch können wir die Objekte im Kontext ihrer Umwelt verstehen. Manchmal begreifen wir erst dadurch, wo wir weiter ausgraben sollen, wo neue Befunde zu erwarten sind.

Wie funktioniert der wissenschaftliche Austausch zwischen Ägypten und Deutschland?

Wir versuchen, bestimmte Themen und Diskurse – auch aus der europäischen und deutschen Wissenschaft – in Kairo zur Sprache zu bringen. In diesem Rahmen ist zum Beispiel geplant, eine Vortragsreihe mit Wissenschaftlern der Freien Universität zu etablieren. Ich hoffe, dass das im Herbst Wirklichkeit wird.

Was unterscheidet die Archäologie-Arbeit in Ägypten von der in Deutschland?

An einer Universität fokussiert man sich in der Regel auf ein Forschungsprojekt. Wenn man im Land, also im Feld ist, reicht das nicht. Man muss dann andere Notwendigkeiten der archäologischen Arbeit zur Kenntnis nehmen. Unsere Arbeit hier in Kairo schließt ein Engagement für den Erhalt und sogar die Verwaltung von antiken Objekten ein.

Was macht Ihre Arbeit in Ägypten so besonders?

Ägypten ist ein an Archäologie sehr reiches Land – und gleichzeitg ein Land, das einer starken dynamischen Entwicklung unterliegt. Moderne Dynamik auf der einen Seite und archäologische Hinterlassenschaften auf der anderen geraten leicht in Konflikt miteinander. Unsere Herausforderung ist es, diesen Konflikt produktiv zu bestehen. Das heißt, eine Archäologie zu verfolgen, die nicht autistisch ist und die mehr als nur ihre eigenen wissenschaftlichen Ziele sieht.

Wie sieht das konkret aus?

Die ägyptische Archäologie ist dadurch, dass es hier so viele wunderbare Sachen gibt, gelegentlich ein bisschen träge. Die großen Statuen und Tempel können manchmal den Blick verstellen. Wobei ich gar nichts dagegen sage, sich mit Tempeln und Statuen zu beschäftigen, ich tue das selbst gerne. Aber Archäologie ist sehr viel mehr. Archäologie sollte einen umfassenden Blick auf die verschiedenen Existenzbereiche des Menschen zu einer Zeit ermöglichen. Es geht uns nicht nur darum, die großen Monumental- und Ritualbauten auszugraben, sondern genauso um das dörfliche Leben, Werkstätten, Handel und um ökonomische Sachverhalte.

Wo fängt Archäologie an und wann hört sie auf?

Das beginnt im Neolithikum, also der Zeit, als die ersten Dörfer entstanden und die Menschen im Nildelta sesshaft geworden sind und reicht bis in die Zeit Muhamad Alis. Das ist ein Zeitrahmen von 5000 vor Christus bis 1850. Und zwar nicht begriffen als eine Serie getrennter Themen, sondern als ein einheitliches Thema.

Wie sehen Sie die akademische Ausbildung in ihrem Fach?

Ich bin der Meinung, dass man in drei Monaten hier im Feld mehr für ein Ägyptologie-Studium lernt als während eines Semesters an der Universität. Damit sage ich nicht, dass man nicht an der Universität seine Semester zubringen soll. Aber hier lernen die Studierenden, sich die Archäologie zu ihrer eigenen Sache zu machen. Sie verstehen überhaupt erst richtig, warum sie das alles tun. Wir können auf unseren Grabungen entscheidende Impulse für eine Identifikation mit dem Fach geben. Ich würde mir wünschen, dass das noch stärker im Rahmen der neuen Studiengänge berücksichtigt würde.

Wie sind Sie zur Archäologie gekommen?

Wenn man mich fragt, wie man dazu kommt, etwas so Kurioses zu machen, antworte ich immer: Das ist gar nichts Kurioses. Ägypten ist kein fremdes Land, und die Archäologie liegt viel näher als man vermutet. Es kann jederzeit Klick machen, und dann ist die Leidenschaft da, Ägyptologe zu werden. So war das bei mir. Und Sie ahnen nicht, wie viele Leute einem sagen „Ich wollte das eigentlich auch mal studieren, aber dann bin ich doch Arzt geworden.“

— Das Gespräch führte Stephan Töpper