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Eine Frage der Auslegung

Wissenschaftlerinnen der Freien Universität und der Humboldt-Universität erforschen den islamischen Feminismus in Südasien

31.05.2010

Ihnen geht es schon lange nicht mehr nur um das Kopftuch: Weltweit steigt die Zahl der Musliminnen, die um gesellschaftliche Emanzipation und die Akzeptanz eines modernen Rollenverständnisses in ihren Ländern kämpfen. Dabei greifen sie vor allem auf den Koran und die Überlieferung des Propheten Muhammad zurück – selbst wenn sie damit überlieferten Interpretationen teilweise widersprechen.

„Eine islamische feministische Bewegung im strengen Sinn gibt es zwar nicht. Aber es gibt einzelne aktive Persönlichkeiten, deren Anliegen Gerechtigkeit ist. Gerechtigkeit, die impliziert, dass Mann und Frau zwar unterschiedlich sind, aber gleichwertig und gleichberechtigt“, erklärt Gudrun Krämer, Professorin am Institut für Islamwissenschaft der Freien Universität Berlin. Und Nadja-Christina Schneider, Juniorprofessorin für Medialität und Intermedialität in den Gesellschaften Asiens und Afrikas am Institut für Asien- und Afrikawissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin betont: „Zwar gibt es in Indien eine neue muslimische Frauenbewegung, für die der islamische Feminismus einen wichtigen Bezugspunkt darstellt. Aber muslimische Frauen in Indien partizipieren auch an säkularen Organisationen und Bewegungen, nicht alles ist religiös begründet.“

Seit Mai arbeiten die Wissenschaftlerinnen gemeinsam an dem Forschungsprojekt mit dem Titel „Lokale Dynamiken eines transnationalen Diskurses: Islamischer Feminismus in Südasien. Indien, Pakistan, Bangladesch im Vergleich“.

„Aus unserer europazentrierten Sicht wird dem Islam in den Ländern Südasiens derzeit noch viel zu wenig Bedeutung beigemessen“, erklärt Nadja-Christina Schneider. Dabei leben in Südasien mehr als 437 Millionen Muslime, weit mehr also als in den arabischen Staaten, Iran und der Türkei, die häufig als Kernländer der islamischen Welt betrachtet werden. Während in Pakistan und Bangladesch Muslime die Bevölkerungsmehrheit darstellen, sind sie in Indien mit rund 13 Prozent Anteil an der Gesamtbevölkerung zwar eine Minderheit, zählen insgesamt aber beeindruckende 130 Millionen Menschen. „Vor diesem Hintergrund ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Südasienwissenschaft und Islamwissenschaft ein wichtiges Anliegen, das wir mit unserem Kooperationsprojekt vorantreiben wollen“, sagt NadjaChristina Schneider.

Was hat es nun aber auf sich mit dem islamischen Feminismus in Südasien? Eine neue Generation muslimischer Frauen diskutiert mithilfe von Internet und E-Mail über Ländergrenzen hinweg über religiös begründete Ideen von der Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern. Die Themen sind vielfältig: Es geht einerseits um Fragen des gesellschaftlichen Lebens oder gesetzliche Grundlagen, beispielsweise den Zugang zu Moscheen, zu Bildung und – speziell in Indien – um eine Reformierung des islamischen Personenstandrechts. Andererseits wird diskutiert, wie der Koran jenseits von chauvinistischen oder sexistischen Lesweisen zu interpretieren sei. Wie ist Sure 4 zu deuten, in der es heißt, ein Mann dürfe bis zu vier gläubige Frauen heiraten? Und wie ist jener Koran-Vers zu interpretieren, der festgelegt, dass der Sohn den doppelten Anteil einer Tochter erbt?

Zeitgemäße Auslegungen bergen Konfliktstoff, zumal muslimische Frauenrechtlerinnen gegenüber ihren Landsleuten vor einem Rechtfertigungsproblem stehen: „Feministinnen werden in der islamischen Welt oft als Lakaien des Westens denunziert: Eine Gender-Diskussion kann man leichter führen, wenn man sich auf den Koran bezieht und auf das Vorbild des Propheten“, sagt Gudrun Krämer. Deshalb komme es für die Musliminnen darauf an, auf die grundlegenden Werte der Gleichheit und Gerechtigkeit im Koran zu verweisen und diese als dynamisch zu begreifen. Mit einem eigenen Forschungsvorhaben trägt Shahnaz Khalil Khan zum Kooperationsprojekt bei, das von der Gerda-Henkel-Stiftung gefördert wird. Die Britin promoviert zur Situation der Musliminnen in Kaschmir und zu der Identität stiftenden Rolle des islamischen Feminismus in der Himalaya-Region.

„Unser Ziel ist es, am Beispiel des islamischen Feminismus zu zeigen, wie aus den vielfältigen Beziehungen zwischen internationalen Debatten und lokalen Aktivitäten in Südasien grundlegend neue Ideen, Praktiken und Akteure hervorgehen“, sagt Nadja-Christina Schneider. Diese seien wiederum wichtig, sowohl für die Identität der südasiatischen Frauen im Spannungsfeld zwischen Glauben und Gleichberechtigung als auch für ihre Rolle als Staatsbürgerinnen.

Gudrun Krämer und Nadja-Christina Schneider sehen in ihrem auf zwei Jahre angelegten Kooperationsprojekt nicht nur die große Chance, Tendenzen und Entwicklungen innerhalb des islamischen Feminismus in Südasien zu untersuchen. Sie wollen mit einem Workshop im nächsten Jahr und einer großen Abschlusskonferenz 2012 auch ein Forum bieten, um sich mit muslimischen Frauenaktivistinnen auszutauschen. „Der islamische Feminismus ist eine weltweite diskursive Bewegung, aber keine geschlossene Bewegung bestimmter Organisationen und auch keine Ideologie“, sagt Nadja-Christina Schneider. „Deshalb ist es uns so wichtig, während des Workshops mit den einzelnen Akteuren ins Gespräch zu kommen.“