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„A Mensch mit a weitem Guck“

Die russisch-jüdische Familie Kahan gehörte im Berlin der Weimarer Republik zur Wirtschaftselite

31.05.2010

„Alles war von großem Maßstab“, erinnert sich Eli Rosenberg, wenn man ihn nach seinen Großeltern fragt. Der 82-Jährige steht vor dem Haus Schlüterstraße 36 in Berlin-Charlottenburg. Hier, im Hochparterre des Gründerzeitbaus, haben Jonas Rosenberg und Miriam, geborene Kahan, gelebt: „Am Sabbat und an besonderen Feiertagen kamen manchmal bis zu 70 Gäste.“

Achtzehn Jahre lang, von 1915 bis 1933, war die Neun-Zimmer-Wohnung nahe dem Kurfürstendamm der Mittelpunkt der jüdisch-orthodoxen Großfamilie – und ein offenes Haus: Man veranstaltete literarisch-gesellige Abende, lud zum Sabbat ein, führte eine eigene Synagoge und nahm hilfsbedürftige jüdische Flüchtlinge aus Osteuropa auf.

Unter den zahlreichen osteuropäischen Juden, die zumeist als Kriegs- und Revolutionsflüchtlinge aus Russland in das Berlin der Weimarer Republik kamen, hätten die Kahans zu einer Minderheit gehört, sagt Verena Dohrn: „Sie brachten kulturelles, vor allem aber finanzielles Kapital mit ins Exil.“ Die Wissenschaftlerin ist Professorin am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin; sie initiierte und koordiniert das Projekt „Charlottengrad und Scheunenviertel – Osteuropäisch-jüdische Migranten im Berlin der 1920/30er Jahre“. Es lief vor zweieinhalb Jahren an und wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert. Ziel ist es, Milieu und Lebenswelt der Migranten in einer Zeit zu rekonstruieren, die Integration und Aufnahme kannte, aber auch Ausgrenzung und Abschottung.

Familien wie die Kahans bereicherten die Stadt Berlin in vielfältiger Weise

Auf die Geschichte der Kahans ist Verena Dohrn per Zufall gestoßen: „Durch einen persönlichen Kontakt habe ich bei einem Israel-Aufenthalt eine Nachfahrin der Familie kennengelernt: Efrat Carmon, eine Cousine Eli Rosenbergs und Urenkelin des Firmengründers Chaim Kahan.“ Die Wissenschaftlerin vertiefte sich in Aufzeichnungen und Briefe, sichtete Fotos und Familienalben, recherchierte in Archiven und sprach mit Nachfahren.

Von 1914 an waren die Familienmitglieder aus dem aserbaidschanischen Baku und anderen Städten des damaligen Russischen Reiches in die deutsche Hauptstadt gekommen. Chaim Kahan, Eli Rosenbergs Urgroßvater, wurde 1850 im heute weißrussischen Brest-Litowsk als Sohn eines Fischhändlers geboren. Er war selbst nicht besonders gebildet, weiß Eli Rosenberg aus Erzählungen, erkannte aber, wie wichtig Bildung ist: „Mein Urgroßvater war vorausschauend, ,a Mensch mit a weitem Guck‘, wie man auf Jiddisch sagt.“ Chaim Kahan hatte zwei Töchter und fünf Söhne, von denen er wenigstens zwei der Jungen von Russland aus auf deutsche Schulen und Internate schickte, wie Eli Rosenberg in Familiengesprächen erfahren hat: Deutschland galt seinem Urgroßvater als Hort der Liberalität und der europäischen Bildung.

Mithilfe seiner Söhne und Schwiegersöhne baute er die von ihm gegründete Kaukasische Gesellschaft zum Handel mit Brennstoffen bis Ende des 19. Jahrhunderts zu einem Geschäftsimperium mit internationalen Beziehungen aus. Mit Berlin – so wollte es der Patriarch, der selbst nur kurze Zeit dort gelebt hatte, – sollte ein neuer Familien- und Firmenstützpunkt geschaffen werden. 1922 gründeten seine Söhne die Naphta-Industrie- und Tankanlagen AG (NITAG), die bis Mitte der dreißiger Jahre zum drittgrößten Ölimporteur in Deutschland avancierte. Bei der NITAG waren rund 100 Arbeitnehmer beschäftigt, darunter viele Migranten. 1930, auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs, fertigte das Unternehmen in Wilhelmshaven und Hamburg 35 Öltanker mit insgesamt 118 096 Bruttoregistertonnen ab.

Die Familien des Kahan-Clans lebten, arbeiteten und wohnten zusammen, verteilt auf sieben Adressen in Charlottenburg. Bis 1937 gehörten ihnen die Mietshäuser Schlüterstraße 37 und Wielandstraße 32, das Elternhaus Eli Rosenbergs, in dem er die ersten vier Lebensjahre verbrachte. Neben der NITAG war die Familie auf dem Wohnungsmarkt und im Verlagswesen tätig. Ihr gehörten in Berlin der Verlag Stybel, die russischen Editionshäuser Petropolis und Obelisk sowie Jalkut, wo Gebetsbücher und Schriften in hebräischer Sprache verlegt wurden.

Dass die Geschichte der Kahans erst jetzt erforscht wird, sei erstaunlich, schließlich sei die Familie in ihrer familiären Struktur und wirtschaftlichen Strahlkraft durchaus vergleichbar mit der jüdischen Bankiersfamilie Rothschild oder dem Verlagshaus Mosse, sagt Verena Dohrn: Alle drei seien ökonomisch agierende Familienclans gewesen und hätten zur jüdischen Wirtschaftselite gehört.

Für das Leben der osteuropäischen Juden im Berlin der Weimarer Republik seien die Kahans gleichermaßen repräsentativ und nicht repräsentativ, sagt Gertrud Pickhan, Professorin und Leiterin des Projekts am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin: „Repräsentativ, weil man an ihnen gut nachvollziehen kann, wie die Migranten in die Stadt hineinwirkten: durch die Firmenkontakte der NITAG, den Anteil am kulturellen Leben Berlins, ihre Wohltätigkeit.“ Nicht repräsentativ, weil sie durch ihren wirtschaftlichen Wohlstand und ihre akademische Bildung zur kleinen Gruppe der etwa 5000 russisch-akkulturierten Juden gehört hätten, die nicht im Scheunenviertel, sondern im bürgerlichen Westen gewohnt hätten, ergänzt Verena Dohrn. Insgesamt könne man von mindestens 25 000 osteuropäisch-jüdischen Migranten ausgehen, die während der Weimarer Republik in Berlin gemeldet waren. Neben Schöneberg und Wilmersdorf waren vor allem der Kurfürstendamm und seine Nebenstraßen ein Zentrum jüdischen Lebens in Berlin, in dem die Migranten aus dem östlichen Europa eine wichtige Rolle spielten. Und sich mit den bürgerlichen Insignien des 19. Jahrhunderts ausstatteten: Man besaß Rosenthal-Geschirr, ließ sich in Öl malen und fügte sich in die patriarchalischen Strukturen.

Familienerinnerungen sind eine besondere Form des kollektiven Gedächtnisses. Woran erinnert man sich und wie? Was hat Einfluss auf das individuelle Gedächtnis? Auch das interessiert Verena Dohrn – mit der Aufbereitung der Geschichte der Kahans verbindet sich Zeitzeugenschaft mit Geschichtswissenschaft.

Durch die Emigration 1933 rettete sich die Familie vor dem Holocaust

Eli Rosenberg war vier Jahre alt, als er sein Zuhause verlassen musste. Bereits vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten gaben seine Eltern ihn und seinen Bruder 1932 für kurze Zeit in die Obhut der Tante und reisten in das damalige Palästina, um die Emigration der Familie vorzubereiten. Am 28. März 1933 verließen die Rosenbergs Deutschland. Durch die rechtzeitige Emigration nach Israel und den USA entgingen sie dem Holocaust.

Nach dem Abitur in Tel Aviv und dem Freiwilligendienst in einem Kibbuz studierte Eli Rosenberg Mathematik, Physik und Geologie in Jerusalem, später in Zürich. Nach seiner Promotion 1960 stieg er ins Ölgeschäft ein – allerdings nicht bei der NITAG. Sie war 1935 an die Wintershall AG verkauft und 1937 in Nitag Deutsche Treibstoffe AG umbenannt worden. Seit seinem ersten Besuch im Jahr 1969 ist Rosenberg regelmäßig in Berlin: „Obwohl wir Berlin verlassen mussten, komme ich gerne hierhier. Ich fühle mich der Stadt verbunden. Das hat viel mit den Erzählungen meiner Eltern zu tun: Sie haben Berlin in den zwanziger Jahren genossen, meine Mutter war Pianistin, beide liebten die Operette und das Theater.“ Was er vom neuen Berlin sehe, gefalle ihm, auch in Potsdam sei er wieder gewesen. Nur am Wannsee nicht: „Das ertrage ich nicht. So eine schöne Gegend, in der so Schreckliches geplant worden ist.“

Im Frühjahr 2012 findet im Rahmen des Projekts „Charlottengrad und Scheunenviertel“ eine Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin statt. Die Geschichte der Kahans wird dann in einem eigenen Raum präsentiert: mit Fotos, Briefen und Einrichtungsstücken. Als individuelle Familiengeschichte und stellvertretend für andere russisch-jüdische Familien jener Zeit.