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Die Welt hinterm Kiez

Studierende und Schüler erkunden Berlin

31.05.2010

„Wann sind wir denn am Brandenburger Tor?“ Erwartungsvoll schaut der dunkelhaarige Junge vom Oberdeck des Stadtrundfahrtenbusses. Wie viele andere Passagiere an Bord hat er das monumentale Wahrzeichen Berlins noch nie gesehen. Dabei ist der Schüler kein Tourist – er ist in der Hauptstadt geboren und aufgewachsen. Seinen Heimatbezirk Kreuzberg hat der neunjährige Eren bis vor acht Monaten jedoch nur selten verlassen. Dann lernte er die 21-jährige Studentin Antonia kennen – die ihm zeigte, dass Berlin größer ist als der Kreuzberger Kiez.

Zusammengeführt hat die beiden das Mentorenprojekt Nightingale, bei dem Lehramtsstudierende der Freien Universität und Kreuzberger Grundschulkinder mit Migrationshintergrund gemeinsam Berlin erkunden. Acht Monate lang haben der türkischstämmige Schüler und die Studentin jede Woche einen Nachmittag miteinander verbracht. Eren lächelt, wenn er von seinen Unternehmungen der vergangenen Wochen erzählt: Er war im Tierpark, im Legoland und im Aquarium. Immer mit dabei: Mentorin Antonia. Heute steht die Stadtrundfahrt durch Berlin auf dem Programm. Nicht nur für Eren eine neue Erfahrung, sondern auch für Antonia: „Ich bin vor zwei Jahren für das Studium von Schwedt nach Berlin gezogen und habe bisher auch noch keine Stadtrundfahrt gemacht“, erzählt sie.

So ist das Mentorenprojekt Nightingale nicht nur eine Bereicherung für die Schüler, sondern auch für die Studierenden. „Man lernt vollkommen neue Lebenswelten kennen. In dem Teil Kreuzbergs, in dem Eren wohnt, bin ich zuvor noch nie gewesen“, sagt die angehende Lehrerin. „Durch Eren und seine Familie habe ich Einblick in die türkische Kultur erhalten und gelernt, meine Augen zu öffnen.“ So ergänzt der reale Einblick in die Lebensumstände eines Kindes mit Migrationshintergrund die Lehrerausbildung an der Universität mit wichtigen praktischen Erfahrungen.

Auch Eren profitiert von dem Projekt: Er lernt neue Orte außerhalb Kreuzbergs kennen und verbessert durch die Gespräche mit Antonia seine Deutschkenntnisse. „Eren ist in den vergangenen acht Monaten viel gesprächiger und selbstbewusster geworden“ sagt Antonia. „Es ist ein wirklich schönes Gefühl zu sehen, wie er regelrecht aufblüht."

Die positive Entwicklung des Schülers spiegelt sich im Namen des Projekts Nightingale wider: Die Nachtigall sticht nicht durch ein besonders farbenfrohes Gefieder hervor. Wenn man ihr lauscht, fällt sie aber sehr wohl auf – durch ihren wunderschönen Gesang, der ertönt, sobald sie sich sicher fühlt. Vor vier Jahren startete das Mentorenprojekt an der Freien Universität und der OttoWels-Grundschule in Kreuzberg. Vier von fünf Kindern haben hier einen Migrationshintergrund. Eren wurde wie die anderen Kinder, die bereits am Projekt teilgenommen haben, von seiner Klassenlehrerin ausgewählt. Sind die Eltern einverstanden, können die gemeinsamen Erkundungstouren von Schülern und Studierenden beginnen – bis heute entstanden auf diese Weise 64 Tandems.

Ihre wöchentlichen Erlebnisse haben Eren und Antonia in einem gemeinsamen Tagebuch festgehalten. Das Tagebuch wird Eren behalten, „damit er sich auch in ein paar Jahren noch an unsere gemeinsame Zeit erinnern kann“, sagt die Studentin. Mit der Stadtrundfahrt endet die gemeinsame Zeit vorerst – sie ist das letzte Nightingale-Treffen von Eren und Antonia. „Aber ich hoffe, dass wir uns auch nach dem Projekt nicht aus den Augen verlieren werden.“