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Partituren für den Tanz

Jonathan Burrows ist neuer Valeska-Gert-Gastprofessor an der Freien Universität Berlin

15.10.2010

Wo treffen sich Schreiben und Tanzen? Für Jonathan Burrows, einen der führenden britischen Choreographen, besteht eine Verbindung beider Praktiken auf der Ebene der Tanzkomposition. Unter dem Seminartitel „Writing Dance“ wird er als neuer Valeska-Gert-Gastprofessor mit den Studierenden des Masterstudiengangs Tanzwissenschaft der Freien Universität Berlin in diesem Wintersemester solche Überschneidungen erkunden.

Burrows, der besonders für seine Übertragung musikalischer Kompositionsweisen auf Bewegung bekannt ist, beschreibt seine Herangehensweise dabei so: „Praktische Aufgaben werden sowohl schriftlich als auch physisch sein, mit einem Fokus auf Bewegungsarbeit und Partituren.“ Ein Bewegungstraining dient dabei zunächst als Ausgangspunkt für das Schreiben von choreographischen „Partituren“ - damit sind Regelsammlungen gemeint, die Vorgaben und Einschränkungen zur zeitlichen und räumlichen Einteilung und zur Art der auszuführenden Bewegung festlegen.

Umgekehrt werden auch bestehende Partituren aus dem Tanz- und Theaterrepertoire in Bewegung umgesetzt, beispielsweise vom Experimentaltänzer Steve Paxton oder dem Schriftsteller Samuel Beckett. Wichtig ist in beiden Fällen die Wechselbeziehung von Regelwerk und Tanzbewegung, welche zwischen der subjektiven Bewegungserfahrung und einem konzeptionellen Blick auf die Gesamtkomposition pendelt. Anhand dieser Partituren will Burrows mit den Studierenden die kompositorische Praxis untersuchen, aber auch die Beziehung zwischen Intention und Bewegung sowie zwischen Partitur und Vorstellung. „Für die Studierenden ist dies eine ideale Möglichkeit, Burrows’ choreographischen Stil kennenzulernen – mit Gesten von Alltagsbewegungen zu ‚komponieren‘ wie mit Tönen oder Sprachlauten“, sagt Gabriele Brandstetter, Leiterin des Masterstudiengangs Tanzwissenschaft an der Freien Universität. Diese praktischen Erfahrungen könnten sie in ihre tanzwissenschaftliche Untersuchungen einbringen.

Die Entwicklung von Choreographien entlang der Struktur kompositorischer Partituren ist genuiner Teil in Burrows Schaffen, etwa in „The Stop Quartett“ aus dem Jahr 1996, einer Art choreographischem Puzzle zur Musik des italienischen Komponisten Matteo Fargion. Dieser Richtung folgend entstanden seit 2002 fünf Bewegungskompositionen, in denen Burrows und Fargion im Duett auftreten. So setzten beide für das preisgekrönte Stück „Both Sitting Duet“ die rhythmische Struktur von „For John Cage“ aus der Feder des amerikanischen Komponisten Morton Feldmans minutiös in eine Folge von Gesten um. Diese humorvolle Choreographie wurde unter anderem 2004 mit dem New Yorker „Bessie“ -Award ausgezeichnet. Sie war im Dezember 2008 auch bei der Jahrestagung des Sonderforschungsbereichs „Kulturen des Performativen“ der Freien Universität zum Thema Gesten im Haus der Kulturen der Welt zu sehen.

Schon während seiner langjährigen Solokarriere beim Royal Ballet in London choreographierte er eigene Stücke und tanzte für die zeitgenössische Gruppe der britischen Choreographin Rosemary Butcher. 1988 gründete er die Jonathan Burrows Group; er konzentriert sich seither auf sein eigenes Schaffen, welches sich besonders durch die Zusammenarbeit mit renommierten Künstlern wie der Ballerina Sylvie Guillem, dem Ballett Frankfurt unter der Leitung William Forsythes, der zeitgenössischen Tänzerin Chrysa Parkinson sowie dem Theaterregisseur Jan Ritsema auszeichnet. Neben seiner choreographischen Arbeit ist Burrows als Gastdozent tätig, zum Beispiel an Anne Teresa De Keersmaekers Schule P.A.R.T.S in Brüssel oder als Gastprofessor für Schauspiel und Theater an der Königlichen Holloway-Universität in London. Er ist auch Gastprofessor für Performance Studies an der Universität Hamburg. Im Wintersemester 2010/11 übernimmt Burrows nun die ValeskaGert-Gastprofessur am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. Seit ihrem Bestehen 2006 wird diese Stelle in jedem Semester neu mit renommierten ausländischen Künstlern besetzt. Dadurch kommen die Studierenden für Tanzwissenschaft regelmäßig in Kontakt mit namhaften Vertretern der zeitgenössischen Tanzpraxis, etwa mit Anna Huber, Rudi Laermans, Xavier LeRoy und zuletzt Rosemary Butcher. Namenspatronin der Gastprofessur ist eine der innovativsten Tänzerinnen der historischen Avantgarde, Valeska Gert (1892-1978), deren Schaffen thematisch in einem hohen Maße durch die Stadt Berlin geprägt war.

Auftakt der Gastprofessur ist eine Einführung durch Jonathan Burrows am 9. November um 20.00 Uhr im Hörsaal des Instituts für Theaterwissenschaft der Freien Universität in der Grunewaldstraße 35, zu der alle Interessenten herzlich eingeladen sind. Dort findet am 11. Februar 2011 auch die Abschlusspräsentation des Seminars statt, die einen Einblick in die gemeinsame Arbeit mit den Studenten bietet. Wer Burrows schließlich selbst in Aktion erleben möchte, hat am 10. Februar 2011 um 19.30 Uhr die Gelegenheit, ihn gemeinsam mit Matteo Fargion in ihrem aktuellen Stück „Cheap Lecture“ in der Blackbox der Akademie der Künste am Pariser Platz zu sehen.

- Die Autorin ist Studentin des Masterstudiengangs Tanzwissenschaft an der Freien Universität Berlin.