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Wie Mauern fallen könnten

Die Islamwissenschaftlerin Sabine Schmidtke will wissenschaftliche Disziplingrenzen und Vorurteile überwinden

15.10.2010

Die Manuskripte, mit denen Sabine Schmidtke arbeitet, sind Zeugnisse einer längst vergangenen Zeit. Einer Epoche, in der muslimische, jüdische und christliche Gelehrte eine wohl einzigartige kulturelle und intellektuelle Gemeinschaft bildeten. Im Vorderen Orient des 8. bis 15. Jahrhunderts sprachen Wissenschaftler, gleich welchen Glaubens, Arabisch. Sie lasen dieselben Bücher, kopierten gegenseitig ihre Manuskripte und führten über Jahrhunderte hinweg einen ebenso kontinuierlichen wie vielfältigen Austausch der Ideen.

Betrachtet man die heutigen Verhältnisse im Nahen Osten – seit Jahrzehnten einer der größten Konfliktherde der Gegenwart – erscheint diese intellektuelle Symbiose jenseits aller Religionsgrenzen als ferne Utopie. Doch die vermeintliche Illusion ist real, nachweisbar in Tausenden von Quellen, Manuskripten und Kommentaren. Sabine Schmidtke, Professorin für Islamwissenschaften an der Freien Universität Berlin, sucht weltweit in Archiven nach mittelalterlichen Texten, in denen sich Muslime, Juden und Christen ideengeschichtlich aufeinander beziehen.

Mit der Identifikation dieser Schriften, ihrer Beschreibung und historischen Einordnung will die renommierte Wissenschaftlerin den kontinuierlichen Gedankenaustausch dieser intellektuellen Gemeinschaft rekonstruieren. Es sind Puzzlestücke, die nicht nur eine Forschungslücke in der Überlieferung des Islam schließen, sondern auch für die Wahrnehmung der islamischen Welt im Westen von großer Bedeutung sind.

Als Paradebeispiel für Spitzenforschung in der Hauptstadt wird die Arbeit von Sabine Schmidtke in dem jüngst erschienenen Band „Ideen, täglich. Wissenschaft in Berlin“ beschrieben. Die Journalistin Kristina Vaillant schildert darin die Begeisterung der Wissenschaftlerin für ihr Forschungsthema und veranschaulicht, wie sie ein verschüttetes Erbe nach und nach freilegt und für die Wissenschaft nutzbar macht. Sei es im Kellerbunker der Staatsbibliothek zu Berlin oder im privaten Arbeitszimmer Sabine Schmidtkes, das einem Spezialarchiv für islamische Literatur gleicht, überall wird deutlich: „Forschung ist Leidenschaft, Berufung, Erfüllung“, wie Gabriele Gramelsberger, Wissenschaftsphilosophin an der Freien Universität Berlin, in einem den Band einleitenden Essay schreibt.

Aber Forschen heißt eben nicht nur wissenschaftlich zu arbeiten. Sabine Schmidtke will in ihrer Arbeit nicht allein Quellen analysieren, sie will mehr: Mauern einreißen, Schranken aufheben. „Geistesgeschichte kennt keine Grenzen“, sagt die vielfach ausgezeichnete Professorin und fordert, die Isolation einzelner wissenschaftlicher Disziplinen zu überdenken. „Viele Forscher, die sich mit der Ideengeschichte des Nahen Ostens auseinandersetzen, konzentrieren sich entweder auf einen muslimischen, einen jüdischen oder einen christlichen Autor und sein Werk.

Die Analyse der sogenannten rationalen Wissenschaften Theologie, Recht und Philosophie bedarf aber einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit von Judaistik, Islamwissenschaften und der Wissenschaft vom Christlichen Orient“, sagt Sabine Schmidtke. Als benötige man dafür noch ein greifbares Exempel, arbeitet die Islamwissenschaftlerin derzeit bis Dezember am Katz Center for Advanced Judaic Studies an der University of Pennsylvania.

Während die Kollegen ihrer Forschergruppe, allesamt Vertreter der Judaistik, zu Konversionen aus dem Judentum und zum Judentum arbeiten, untersucht die „Fachfremde“ Sabine Schmidtke muslimische Polemiken und Verteidigungsschriften, auf die die Konvertiten großen Einfluss hatten: „Eine größere Achtsamkeit gegenüber den stetigen Verflechtungen der unterschiedlichen Glaubenswelten würde noch mehr Wissenschaftler zu neuen, derzeit noch unerforschten Gegenständen und Perspektiven führen“, konstatiert Sabine Schmidtke.

An der Freien Universität Berlin bringt die lslamwissenschaftlerin Forscher unterschiedlichster Disziplinen zusammen, die oft genug auch politische Grenzen trennen. Vielleicht ist dies ein Erbe der diplomatischen Karriere, die Sabine Schmidtke von 1991 bis 1999 im Auswärtigen Amt machte. Wie schon in ihrer 2003 gegründeten Arbeitsgruppe zu Mu'tazilitischen Manuskripten arbeiten auch an ihrem größten Forschungsprojekt „Wiederentdeckung des theologischen Rationalismus in der mittelalterlichen Welt des Islam“ Forscher aus der islamischen Welt mit Wissenschaftlern aus Westeuropa und den USA zusammen. Das Projekt wird für die kommenden fünf Jahre mit 1,86 Millionen Euro vom Europäischen Forschungsrat finanziert.

Eine große Konferenz Anfang November gibt Sabine Schmidtke nun die Chance, ihre Gedanken zur wissenschaftlichen, religiösen und auch politischen Grenzüberschreitung erstmals einer größeren Öffentlichkeit jenseits ausschließlich akademischer Kreise vorzutragen. Im Rahmen der internationalen Tagung „Falling Walls Conference 2010“ will sie darüber sprechen, welche Mauern in den Köpfen fallen müssen, um in ihrem, von Vorurteilen belasteten Forschungsbereich wissenschaftliche Durchbrüche zu erzielen.

Die Konferenzreihe „Falling Walls Conference“ wurde 2009 anlässlich des 20. Jahrestages des Mauerfalls mit Unterstützung der Freien Universität Berlin gegründet. In diesem Jahr werden zu der zweitägigen Veranstaltung rund 600 Teilnehmer aus 60 Ländern erwartet. Dazu zählen Wissenschaftler ebenso wie Vertreter aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft.

Sabine Schmidtke sieht die Einladung als Chance: „Hier kann ich zum Ausdruck bringen, dass in einer Welt, in der nationale, religiöse, kulturelle und ökonomische Grenzen zunehmend an Bedeutung gewinnen, akademische Forschung zeigen kann – und muss –, dass ideengeschichtliche Prozesse typischerweise diese Grenzen missachten.“ Dass viele Befürworter religiöser Grenzziehungen, gleich welchen Glaubens, sich gerade auf die Vergangenheit berufen, um ihre Grenzziehung zu rechtfertigen, sei nur eine Seite der Medaille. „Wir Wissenschaftler müssen deutlich machen, dass die Mauern, die wir heute ziehen, vor dem Hintergrund der Geschichte keinen Sinn ergeben.“

Kristina Vaillant, Ernst Fesseler: Ideen, täglich. Wissenschaft in Berlin. Nicolai Verlag, Berlin 2010