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Am Puls des Patienten

Der Modellstudiengang der Charité - Universitätsmedizin Berlin baut auf Praxis

19.11.2010

An seine erste Patientin kann sich Bangin Brim noch gut erinnern. Eigentlich wollte er sich nur als zuständiger Arzt vorstellen: anklopfen, das Zimmer betreten, seinen Namen nennen, Hände desinfizieren und mit der Anamnese beginnen – theoretisch alles ganz einfach. „Trotzdem ist mir ein kleiner Fehler passiert: Während ich mir die Hände wusch, stellte ich mich schon der Patientin vor, also ohne mich direkt zu ihr zu wenden. Ich habe quasi mit der Wand gesprochen. Das war nicht optimal“, erzählt Bangin. Noch ist er kein Arzt, es ist erst seine erste Woche im Medizinstudium. Doch mit Patienten bekommt er es jetzt schon zu tun – wenn auch nur in einer nachgestellten Szene und unter Aufsicht des Oberarztes. Aus dessen Kritik hat Bangin gelernt: „Das ist das Tolle an unserem Studium: Dass man nicht nur die Fakten lernt, sondern auch gleich zu Beginn vieles, was man später im praktischen Umgang mit den Patienten wissen muss.“

Bangin Brim ist einer von 320 Studierenden, die in diesem Wintersemester an der Charité – Universitätsmedizin Berlin, der gemeinsamen medizinischen Fakultät von Freier Universität und Humboldt-Universität, im neuen Modellstudiengang Medizin studieren. Der Modellstudiengang wird den bisherigen Regelstudiengang und den Reformstudiengang ablösen, den die Charité bereits 1999 – als erste Medizinische Fakultät in Deutschland – als Alternativstudiengang mit mehr Praxisnähe ins Leben gerufen hatte. Nur 63 Bewerber pro Jahr konnten im Reformstudiengang studieren. Der Modellstudiengang bietet nun allen Studierenden die Möglichkeit, von Anfang an nicht nur medizinische Theorie, sondern auch die Praxis kennenzulernen.

Das ist neu: Angehende Mediziner häufen in den ersten vier Semestern bis zum Physikum nicht wie bisher ausschließlich theoretisches Wissen an, sondern kommen schon frühzeitig mit Patienten in Kontakt. Auf diese Weise sollen das Lernen von Faktenwissen und die Anwendung des gelernten Wissens besser miteinander verbunden werden. Auch wie Ärzte mit ihren Patienten kommunizieren, wird im Modellstudiengang intensiver als bisher gelehrt und geübt. Außerdem sollen die angehenden Mediziner mehr Erfahrung in klinischer Forschung bekommen. Die Heranführung an die Forschung beginnt ebenfalls früher als bisher: Bereits ab dem zweiten Semester gehören Wissenschaftsmodule und Forschungspraktika zum Stundenplan. „Wir wollen unsere Studierenden so früh wie möglich für die Forschung begeistern und junge Talente fördern und fordern“, erklärt die Dekanin der Charité, Professorin Annette Grüters-Kieslich. Bisher hatten die Studierenden zwar viele Prüfungen, mussten aber bis zur Doktorarbeit kaum Hausarbeiten schreiben. „Wissenschaftliches Denken und Praktizieren sind in diesem Studiengang jetzt in einer einzigartigen Weise miteinander verzahnt – das gibt es so in Deutschland nirgendwo sonst“, sagt Professor Manfred Gross, Prodekan für Studium und Lehre.

Entwickelt haben den Modellstudiengang nicht nur die Lehrenden, sondern auch Studierende. Raisa Fischer, die im vierten Semester im Regelstudiengang Medizin studiert und sich in der Fachschaft engagiert, ist begeistert, wie viel die Studierenden zum neuen Studiengang hätten beitragen können: „Man hat uns nicht nur nach unserer Meinung und unseren Erfahrungen gefragt, sondern auch unsere Vorschläge angenommen und umgesetzt.“ Für sie ist der neue Modellstudiengang jetzt „das Beste aus den zwei Welten“ von Regel- und Reformstudiengang.

In Kleingruppen von acht Studierenden besuchen die angehenden Ärzte Untersuchungskurse, üben Gesprächsführung oder absolvieren Praktika. Das soll den Studierenden dabei helfen, die Theorie besser zu behalten, sagt Professor Harm Peters, Projektleiter des Modellstudiengangs: „Die Didaktik hat uns gezeigt, dass bei der klassischen Vorlesung oft nur fünf Prozent des Wissens nachhaltig erinnerbar sind – beim praktischen Anwenden steigt dieser Prozentsatz deutlich an.“ Prodekan Manfred Gross glaubt, dass der Lerneffekt auch noch in anderer Weise wirkt: „Wir wollen, dass die Studierenden nicht nur wissen, was Ärzte tun, sondern auch, wie sich die Patienten dabei fühlen.“ Deshalb müssen Studierende bei praktischen Lernschritten zuerst einiges an sich selbst ausprobieren, bevor sie auf echte Patienten treffen.

Wie das beim Blutabnehmen funktioniert, konnte Johannes Piel schon bei der Einführungswoche ausprobieren. Im zwanzigsten Stock des Charité-Bettenhauses hat man einen wunderbaren Blick auf Berlin, doch das Panorama interessiert heute niemanden. Alle starren gebannt auf den Tisch in der Mitte des Seminarraums, auf dem ein Arm liegt. Ein Plastikarm. Daran wird demonstriert, wie man eine Vene zum Blutabnehmen ertastet, wie man richtig desinfiziert, das Blut staut und die Nadel einsticht. Danach sollen es die Studierenden an ihren Kommilitonen ausprobieren. „Wenn euch flau im Magen wird, sagt kurz Bescheid. Wegen Blut kippen regelmäßig Leute um“, versucht die Tutorin die Erstsemester zu beruhigen. Johannes Piel hat seinen Kommilitonen Bangin als Versuchsperson, die Tutorin schiebt ihm die Stuhllehne in den Rücken. Ein Arzt müsse auch auf die Haltung des Patienten achten: „Sonst fällt euch der Patient womöglich vom Stuhl, wenn er ohnmächtig wird.“ Vene tasten, Arm abbinden, Handschuhe anlegen, Desinfizieren, Nadel setzen, Blut abnehmen – bei Johannes hat das alles geklappt, ganz ohne Probleme. „Super – kein Nachbluten!“, sagt er und ballt die Hand kurz zur Siegerfaust.

Blutabnehmen als Erfolgserlebnis – der Modellstudiengang soll die Studierenden von Anfang an zum Lernen motivieren: „Wir wollten die Begeisterung, mit der die meisten ihr Studium beginnen, erhalten und fördern“, sagt Manfred Gross. Dazu wurde darauf verzichtet, den Stoff nach Fächern aufgeteilt zu vermitteln. Statt Physiologie, Anatomie und Biochemie wie bisher getrennt voneinander zu lernen, wird in vierwöchigen fächerübergreifenden Modulen gelernt. Das Modul „Bewegung“ etwa erarbeiteten Orthopäden, Sportmediziner, Anatomen, Sportphysiologen, Physiotherapeuten, Unfallchirurgen und Biophysiker gemeinsam. Als praktische Fertigkeit müssen die Studierenden nach vier Wochen die „Lebende Anatomie“ beherrschen – also sämtliche wichtigen Muskeln an einem Menschen auffinden und benennen können. Aber auch eine Untersuchung des Bewegungsapparates und der Beweglichkeit der Gelenke müssten die angehenden Ärzte am Ende des Moduls beherrschen.

Ein „Paradigmenwechsel“ sei das, an den sich auch manche Mediziner vielleicht erst gewöhnen müssten, sagt Prodekan Gross. „Es ist aber nicht so, dass im Modellstudiengang alles nur noch Spaß macht.“ Damit das Wissen aus den Modulen tatsächlich in den Köpfen hängen bleibt, wird am Semesterende jeweils auch der Stoff der vorangegangenen Semester mitgeprüft. „Das klingt nicht nur anstrengend – das ist auch anstrengend. Aber die Inhalte, die wir lehren, sollen auch am Ende des Studiums noch präsent sein.“

Um zu prüfen, ob auf diese Weise tatsächlich bessere Ärzte ausgebildet werden, wird der Modellstudiengang vom Scheffner-Fachzentrum für medizinische Hochschullehre wissenschaftlich begleitet. Doch schon jetzt sind die Organisatoren davon überzeugt, dass das Konzept ein „Quantensprung“ in der Lehre ist. Wenn Professor Peters anderen Ärzten bei Vorträgen vom Berliner Modellstudiengang berichtet, seien die Reaktionen häufig dieselben: „Ich höre dann immer wieder den Satz: ‚So hätte ich auch gerne Medizin studiert’.“ Manchmal ist ein bisschen Neid eben auch ein großes Lob.