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Auf der Überholspur

Die Klimaschutzindustrie ist zu einem „Global Player“ geworden – und schreitet weltweit schneller voran als die Politik

19.11.2010

Das Jahr 2010 ist noch nicht zu Ende. Und doch steht bereits fest: Es ist in der jüngeren Klimageschichte das dramatischste Jahr. Bei nur 0,8 Grad Celsius mittlerer Erwärmung gegenüber Temperaturen zu vorindustriellen Zeiten erleben wir Wetterphänomene, deren Schadensausmaß kaum noch beherrschbar erscheint.

Dennoch ist weiterhin offen, ob die Politiker am Ende dieses Jahres beim Weltklimagipfel im mexikanischen Cancún die erforderlichen Schritte ergreifen werden. In den USA ist das Thema zunächst vertagt worden. Innerhalb der Europäischen Union hat der Elan der vergangenen Jahre eher nachgelassen. Und in der öffentlichen Debatte vieler Länder haben die Anbieter fossiler Energien sogar an Gewicht gewonnen.

Ganz anders ist das Bild bei der Entwicklung von Produkten und Verfahren, die alternative Energien einsetzen oder Energie effizienter nutzen. Der Weltmarkt klimafreundlicher Technologien und Dienstleistungen hat nach neueren Schätzungen bereits ein Volumen von 3,5 Billionen Euro. Und in den USA stellt er bereits mehr als neun Millionen Arbeitsplätze.

Richtig aufregend aber ist die Dynamik dieser neuen „Klimaschutzindustrie“. Die Krisen des vergangenen Jahres hat sie unbeschadet überdauert. Die weltweiten Investitionen in erneuerbare Energien haben sich in nur sechs Jahren verneunfacht. China hat sein Ausbauziel für die Windenergie für das Jahr 2020 von ursprünglich 20 000 auf 150 000 Megawatt erhöht. Dieses „informelle“ Ziel wäre dann mehr als die gesamte deutsche Kraftwerkskapazität.

Wie radikal die Veränderung ist, lässt sich auch an der Europäischen Union ablesen: 2008 lag der Anteil erneuerbarer Energien an neuen Anlagen zur Stromerzeugung bereits bei 57 Prozent. Ein Jahr später waren es 62 Prozent, und für den Zeitraum 2010 bis 2020 erwartet die EU-Kommission offiziell einen Anteil von 64 Prozent erneuerbarer Energien an der neu geschaffenen Stromkapazität. Auch weltweit wurde durch die erneuerbaren Energien im vergangenen Jahr fast die Hälfte der neu errichteten Kapazität zur Stromerzeugung abgedeckt.

Es erstaunt daher nicht, dass das Wagniskapital massiv in diese neue Technik fließt. Dies vor allem seit 2007, dem Jahr, in dem das „Intergovernmental Panel on Climate Change“ (IPCC) – die internationale Institution für die Bewertung des Klimawandels – seine inzwischen wissenschaftlich nicht mehr ernsthaft bestrittenen Aussagen zum Klimawandel machte.

Zu der neuen Dynamik innerhalb der Klimaschutzindustrie gehört, dass immer mehr Wettbewerber auf dem Weltmarkt antreten und bei dieser Technik eine Führungsrolle anstreben. Charakteristisch für diesen Ehrgeiz ist eine Äußerung von US-Präsident Barack Obama: „Es ist nicht mehr die Frage, ob die Jobs und Industrien des 21. Jahrhunderts sich um saubere Verfahren und erneuerbare Ressourcen drehen“, sagte der Präsident. „Die Frage ist: welches Land diese Jobs und diese Industrien hervorbringt. Ich möchte, dass es die USA sind.“

Hier geht es längst nicht mehr um Klima- oder Umweltschutz. Es geht um Industriepolitik – und es geht um Wettbewerb. Ähnliche Proklamationen findet man in Japan, England oder Frankreich ebenso wie in China. Auch Indien erklärt in seinem neuen Solarprogramm das Ziel, Indien zu einem „global leader der Solarenergie“ zu machen. Ein anderes Beispiel ist Korea, das soeben ein 36-Milliarden-Dollar-Programm vorgelegt hat, um den Export von „grüner Technik“ anzuheizen. Von alledem ist die internationale Klimapolitik wenig berührt. Was wären die Schlussfolgerungen für die Europäische Union und für Vorreiterländer wie Deutschland?

Einige Forschungsinstitute, der „Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen“ (WBGU) und die europäischen Umweltverbände haben der EU eine ehrgeizigere Klimapolitik empfohlen: Sie solle ihr bisher an Bedingungen geknüpftes Reduktionsziel für Treibhausgase von 30 Prozent für das Jahr 2020 direkt angehen, sich also nicht auf das 20-Prozent-Ziel beschränken, das in jedem Fall angestrebt werden müsse. Der deutsche Umweltminister hat dies gemeinsam mit seinem britischen und französischen Kollegen ebenfalls gefordert. Dabei wurde auch auf die wirtschaftlichen Vorteile dieser Politik verwiesen.

Utopisch sind diese Vorschläge nicht. Denn die Europäische Union hat bereits im vergangenen Jahr erreicht, dass 17,3 Prozent weniger an Treibhausgasen ausgestoßen wurden als 1990. Das ist zwar auch der Wirtschaftskrise geschuldet. Aber die EU-Kommission geht inzwischen davon aus, dass der Energieverbrauch im Jahr 2020 um fast ein Zehntel niedriger ausfällt als noch im Jahr 2007 erwartet.

Ob andere Länder die Bedingungen erfüllen werden, die die Europäische Union für ihr ehrgeizigeres Klimaziel gesetzt hat, ist eines der Hauptprobleme der Klimaverhandlungen. Aber soll Europa auf andere Länder warten, um das zu tun, was nicht nur leichter geworden ist, sondern auch einen ökonomischen Vorteil birgt? Und sollen Länder wie Deutschland auf die Europäische Union warten? Für Großbritannien kommt aus dem Parlament der Vorschlag, das bereits anspruchsvolle Reduktionsziel von 34 Prozent für das Jahr 2020 noch einmal auf 42 Prozent anzuheben. Mit der Begründung: Es sei angesichts des beschleunigten Klimawandels ohnehin mit strengeren Auflagen zu rechnen. Und für die britische Industrie sei es von Vorteil, sich frühzeitig darauf einzustellen.

Auch Deutschland kann sich ein anspruchsvolleres Klimaziel leisten. Es ist für die höchsten CO2-Emissionen in der EU verantwortlich und birgt erhebliche Reduktionspotenziale. Ungeachtet dessen geht es auch hier um harte Wirtschaftspolitik: Eine Vorreiterrolle in diesem hoch dynamischen Wettbewerb um kohlenstoffarme Technologien ist nur für den Preis steigender Anstrengungen zu haben. Wer von der Klimapolitik ökonomisch profitiert, kann und muss mehr tun als andere. Wer auf andere wartet, ist kein Vorreiter mehr.

Der Autor ist Gründungsdirektor des Forschungszentrums für Umweltpolitik der Freien Universität. Er war Mitglied der Deutschen UNESCO-Kommission sowie des Sachverständigenrates für Umweltfragen der Bundesregierung. Er ist Kuratoriumsmitglied der Bundesstiftung Umwelt und als Experte für das „Intergovernmental Panel on Climate Change“ (IPCC), den Weltklimarat der Vereinten Nationen, tätig. Die IPCC-Berichte zur Beurteilung der Risiken globaler Erwärmung wurden 2007 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.