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Verunsichern – aber richtig

Klassische Philologen, Linguisten und Literaturwissenschaftler erforschen gemeinsam die „Rhetorik der Verunsicherung“

19.11.2010

Sie kann überreden, bekehren, zur Einsicht führen. Und sie kann irremachen, ängstigen, durcheinanderbringen. Rhetorik ist die „Kunst, gut zu reden“, so definierte sie einst der römische Gelehrte Quintilian. Doch was heißt schon „gut reden“? „Gelungene Rhetorik zielt darauf, den Gesprächspartner für den eigenen Standpunkt zu gewinnen. Und zwar durch ethische, logische und emotionale Überzeugungsmittel“, erklärt der Literaturwissenschaftler Martin Vöhler. Dabei hängt der „Überredungs-Erfolg“ keineswegs nur von den Argumenten ab. Bereits in der Antike war Philosophen wie Platon und Sokrates bewusst, dass rhetorische Mittel nicht allein genutzt werden können, um Zuhörer zu begeistern, zu gewinnen oder zu erfreuen. „Rhetorik kann auch erfolgreich sein, wenn sie durch hässliche Tricks wie Ironie und Taktik überzeugt“, sagt der Literaturwissenschaftler, der an den Instituten für Griechische und Lateinische Philologie sowie für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin tätig ist. Wie diese „Tricks“ funktionieren und zu einer Verunsicherung des Gesprächspartners führen – genau das will Martin Vöhler im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Exzellenzclusters „Languages of Emotion“ untersuchen. Gemeinsam mit der Altphilologin Professorin Therese Fuhrer vom Institut für Griechische und Lateinische Philologie der Freien Universität Berlin und der Sprachwissenschaftlerin Professorin Monika Schwarz-Friesel vom Institut für Sprache und Kommunikation der Technischen Universität Berlin leitet der Privatdozent das Forschungsprojekt „Rhetorik der Verunsicherung – Muster negativer Affekt-Strategien und ihre persuasive Funktion“.

„Wir gehen von der These aus, dass weder in der antiken rhetorischen Theoriebildung noch in der modernen, sogenannten Persuasionsforschung bislang die Frage nach der Verunsicherung gestellt und systematisch untersucht wurde“, erklärt Martin Vöhler. Die Wissenschaftler fragen deshalb, mit welchen Mitteln in Dialogen der griechischen und römischen Antike, aber auch in modernen (Streit-)Gesprächen Irritationen hervorgerufen werden können, die zur Verstörung des Gegenübers und schließlich zu der beabsichtigten Umstimmung führen. Dabei bedienen sich die Vertreter von Klassischer Philologie, Sprach- und Literaturwissenschaft ihrer jeweiligen empirischen, theoretischen und historischen Forschungsansätze, um die funktionale Seite der „negativen Rhetorik“ möglichst umfassend zu untersuchen.

Als Beispiel für eine Rhetorik der Verunsicherung in der griechischen Antike führt Martin Vöhler Platons Frühdialoge an. Platon lässt Menon in seinem gleichnamigen Dialog den Sokrates mit einem Zitterrochen vergleichen: Wie dieser Fisch betäube Sokrates alle, die sich ihm nähern, indem er sie in die Aporie, die Ratlosigkeit, führe. In einem anderen Gleichnis lässt Platon Sokrates dessen eigene Wirkung in den Gesprächen als Bremsenstich beschreiben, der ein edles, aber träges Pferd (die Stadt Athen) aufrüttele. „Sokrates‘ Fragen bewegen seine Gesprächspartner und regen sie zur Selbstfindung an. Zu Beginn sorgen sie allerdings für eine Kränkung, die als Schmerz wahrgenommen wird“, sagt Martin Vöhler. Das Forschungsvorhaben sieht drei Teilprojekte vor – im Bereich der Latinistik, der Gräzistik und der modernen Sprachwissenschaft. Sie sollen jeweils im Rahmen einer Dissertation erarbeitet werden. Die drei Doktorarbeiten sollen wesentliche Elemente einer „Rhetorik der Verunsicherung“ entwickeln und darstellen. Dabei geht es nicht nur darum, die unterschiedlichen Quellen im Blick auf das jeweilige Arsenal destruktiver Mittel der Verständigung, etwa in den platonischen Frühdialogen, in Reden und Briefen von Cicero oder Augustinus, in christlichen Predigten oder in Protokollen moderner Dispute, abzuklopfen. Vielmehr ist es den Forschern wichtig, dass Linguistik, Rhetorik und Literaturwissenschaft sich gegenseitig ergänzen. „Wir wollen in regelmäßigen Sitzungen mit den Doktoranden einen neuen Ansatz erarbeiten, der empirische Textanalyse, Experiment und Theorie kombiniert“, sagt Martin Vöhler.

Die drei Projektleiter werden in größeren Aufsätzen den interdisziplinären Ertrag für das eigene Fach herausarbeiten. In drei Workshops und auf einer fächerübergreifenden Konferenz sollen zudem die wesentlichen Ergebnisse des Forschungsprojekts diskutiert werden. „Der interdisziplinäre Ansatz unseres Vorhabens ist uns sehr wichtig“, betont Martin Vöhler. „Das gilt nicht nur für die Kooperation von Klassischer Philologie, Sprach- und Literaturwissenschaft, sondern auch für die empirischen und klinischen Wissenschaften, die nicht in die Arbeit des Projekts einbezogen sind, aber Teil des Forschungsclusters ,Languages of Emotion‘ sind.“ Wer, wie und warum in Gesprächen Bange macht - die Wissenschaftler um Martin Vöhler werden es in den kommenden zwei Jahren ergründen.