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Zeitzeugen-Erinnerungen für den digitalen Arbeitsplatz der Zukunft

Multimediale Archive an der Freien Universität zur NS-Zeit eröffnen neue Wege für Forschung und Geschichtsvermittlung

19.11.2010

Ingrid Schupetta kämpft mit den Tränen, als sie sich die Lebensgeschichte der Jüdin Helma K. als Video-Interview anhört. Und das, obwohl die Politikwissenschaftlerin bei ihrer Arbeit in der Krefelder NS-Dokumentationsstelle täglich mit den Schrecken des Nationalsozialismus konfrontiert ist. Helma K. überlebte NS-Konzentrationslager, Typhus und Vergewaltigungen nach der Befreiung im Jahr 1945. Ingrid Schupetta ist zur Recherche an die Freie Universität Berlin gekommen, denn hier hat sie Zugang zu mehr als 52 000 Audio- und Video-Interviews mit Holocaust-Überlebenden und ehemaligen Zwangsarbeitern. Das Interview mit Helma K. ist eines von ihnen. Mit den multimedialen Zeitzeugen-Archiven ist an der Freien Universität ein neuer Schwerpunkt zur NS-Zeit entstanden. Die Archive eröffnen für Wissenschaft, Lehre sowie schulische und politische Bildungsarbeit neue Möglichkeiten der Erforschung und Vermittlung von Geschichte. Und sie bewahren die Erinnerungen der Opfer.

Seit 2006 ist das von dem US-amerikanischen Filmproduzenten Steven Spielberg initiierte Visual History Archive (VHA) des Shoah Foundation Institute der University of Southern California an der Freien Universität verfügbar. „Wir waren die erste Einrichtung außerhalb der USA, die Zugang zu diesem weltweit größten historischen Video-Archiv angeboten hat", berichtet Professor Nicolas Apostolopoulos, Leiter des Centers für Digitale Systeme (CeDiS), das die multimedialen Archive technisch und inhaltlich betreut sowie den Einsatz in Universität und Schule unterstützt. Mittlerweile können zur weiteren Verbreitung sogar Zugänge für andere Institutionen in Europa bereitgestellt werden.

Durch eine ausgefeilte Suchfunktion und 50 000 Schlagworte sind die 120 000 Interviewstunden erschlossen und ermöglichen so eine gezielte Recherche. Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes und komplexer technischer Anforderungen sind die Videos nur im Netz der Freien Universität zu sehen.

Anders bei dem Online-Archiv „Zwangsarbeit 1939–1945“, das in einer Kooperation mit der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ und dem Deutschen Historischen Museum seit 2008 an der Freien Universität entwickelt wird: Die fast 600 Audio- und Videozeugnisse sind nach einer elektronischen Registrierung über das Internet direkt verfügbar. Dank digitaler Technologie und wissenschaftlicher Erschließung können sie ebenso zielgerichtet durchsucht werden. Zusätzlich entwickelte das CeDiS-Team multimediales Schulmaterial.

Auch in dem von der Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin geförderten Projekt „Zeugen der Shoah“ geht es um die Vermittlung der Erinnerungen an Schüler. Darin erweitert das CeDiS-Team die elektronische Archiv-Umgebung nach didaktischen Gesichtspunkten und erstellt DVDs für den Unterricht. Schulklassen können auch die Freie Universität besuchen und unter Anleitung mit dem Archiv arbeiten, etwa zur Vorbereitung auf Gedenkstätten-Exkursionen.

In der universitären Lehre und Forschung haben die Archive bereits große Bedeutung gewonnen: Einer Statistik des Shoah Foundation Institute zufolge ist die Nutzung des Online-Archivs in Seminaren an der Freien Universität, verglichen mit allen Einrichtungen, die weltweit Zugriff zum VHA bieten, am intensivsten. Professorin Gertrud Pickhan, wissenschaftliche Leiterin des Projekts „Zwangsarbeit 1939–1945“, berichtet von starkem Interesse der Studierenden an den Interviews. Die Osteuropa-Historikerin stellte aber auch fest, „dass die internetbasierte Konfrontation mit Grenzerfahrungen und Traumata der Überlebenden Auswirkungen auf die Studierenden hatte und Möglichkeiten sowie Grenzen des Einsatzes bei der Beschäftigung mit NS-Opfern aufzeigt“.

So ergeben sich neue Methoden und Themen für die Lehre sowie gleichzeitig spannende Forschungsfelder in vielen Disziplinen von der Geschichts- und der Politikwissenschaft über Medien- und Filmwissenschaft bis hin zur Linguistik oder Judaistik. „Welche Auswirkungen hat das Internet auf die Rekonstruktion, Repräsentation und Rezeption von Geschichte?“ oder „Welche Implikationen hat internetbasierte Visual History für die Ethik der Erinnerung?“, lauten Pickhan zufolge offene Forschungsfragen.

Aus einem anderen Blickwinkel heraus betrachtet Klaus Herrmann die Zeugnisse. Ein besonderer Wert liegt nach Ansicht des promovierten Judaisten darin, dass die Interviews lebensgeschichtlich sind, also die Zeitzeugen auch über die Zeit vor 1933 und nach Kriegsende berichten. „Sie sind viel mehr als nur ,Quellen‘ zum Holocaust“, erklärt Herrmann, der deswegen mit dem VHA das Projekt „History und Oral History – Jüdisches Leben in Berlin“ realisiert hat. Über alle Epochen hinweg würden Juden meist in Opferrollen dargestellt. Die Zeitzeugen-Berichte würden helfen, auch positive Aspekte deutsch-jüdischer Kultur zu präsentieren. Da Erinnerungen sich allerdings vermischten und verblassten, schlichen sich in die Erzählungen Fehler ein. „Es geht aber nicht vorrangig darum, unser Wissen um neue Fakten zu bereichern, sondern darum, Geschichte lebendig werden zu lassen – das kann Oral History besser als Geschichtsbücher.“

Für Nicolas Apostolopoulos, Experte für digitale Technologien in Lehre (E-Learning) und Wissenschaft (E-Science) der Freien Universität, ist die Bereitstellung einzelner Archive erst der Anfang. Vier Millionen Euro Drittmittel hat er mit seiner Abteilung für die Archiv-Projekte bislang eingeworben. Er hofft, dass weitere Anträge bewilligt und Kooperationen vereinbart werden, damit einerseits weitere digitale Zeitzeugen-Quellen an der Freien Universität Berlin erschlossen werden und andererseits eine übergreifende Verknüpfung der einzelnen Sammlungen möglich wird. „Wir möchten im Bereich der sogenannten E-Humanities, also der durch digitale Technologien unterstützten Forschung und Lehre in den geisteswissenschaftlichen Fächern, mithilfe eines virtuellen und transdisziplinären Archivraums zur NS-Zeit einen computergestützten Arbeitsplatz für Wissenschaftler von morgen schaffen“, erklärt Nicolas Apostolopoulos.

Seine Vision: Per Meta-Suche können alle verfügbaren NS-Zeitzeugen-Archive in einem interaktiven Portal gebündelt abgefragt sowie Audio- oder Videoausschnitte direkt in elektronische Veröffentlichungen als Quellen eingebunden werden.Ingrid Schupetta ist für das jetzige Angebot dankbar: „Ich habe Ergänzungen zu dem, was wir schon wissen, gefunden – und Neues, etwa die bislang einzigen uns bekannten Zeugnisse über die Novemberpogrome 1938 in Krefelder Vororten.“