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Viel Vergnügen!

Wissenschaftler untersuchen, wie in Berlin um 1900 gefeiert wurde

18.12.2010

Die Revue „Die Nacht von Berlin" wurde 1911 im Metropol-Theater aufgeführt. Heute beherbergt der Bau in der Behrenstraße die Komische Oper.

Die Revue „Die Nacht von Berlin" wurde 1911 im Metropol-Theater aufgeführt. Heute beherbergt der Bau in der Behrenstraße die Komische Oper.
Bildquelle: Rembrandt, Berlin /Institut für Theaterwissenschaft, Freie Universität, Theaterhistorische Sammlung Walter Unruh.

„Treten Sie ein, verehrte Herrschaften, erleben Sie atemberaubende Akrobatik, sensationelle Schauspieler und traumhafte Tänzerinnen!“ So mag ein Conferencier im Berlin der Jahrhundertwende sein Publikum zur Vorstellung im Varieté begrüßt haben. Kabarett, Kino, Tanz oder Theater – am Abend machte man sich fein und ging aus. Das Angebot entsprach der großen Nachfrage: Mit der Industrialisierung strömten im 19. Jahrhundert Bevölkerung und Besucher in die Stadt auf der Suche nach Arbeit – und dem Vergnügen. Freizeit war durch die Einführung von Arbeitsrechten und Urlaub ein neues Gut. Feste waren nicht mehr an Jahreszeiten oder religiöse Feiertage gebunden – in der Stadt vergnügte man sich täglich.

Wie und wo im Berlin des beginnenden 20. Jahrhunderts gefeiert wurde, dazu forscht eine Gruppe unter Leitung von Professor Paul Nolte und Daniel Morat am Friedrich-Meinecke-Institut für Geschichtswissenschaft der Freien Universität. „Metropole und Vergnügungskultur. Berlin im transnationalen Vergleich, 1880–1930“ heißt das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Projekt am Arbeitsbereich Neuere Geschichte und Zeitgeschichte.

Der Untersuchungszeitraum wurde bewusst gewählt: „Die vorletzte Jahrhundertwende stellt eine Transformationsphase dar, in der sich die moderne Massengesellschaft etabliert hat“, sagt Projektleiter Daniel Morat. Um 1900 war Berlin nach London, New York und Paris die viertgrößte Stadt der Welt. 1905 lebten hier mehr als zwei Millionen Menschen, mit der Gründung Groß-Berlins 1920 bereits vier Millionen. Mit der Bevölkerung wuchsen auch das Publikum und der Anspruch auf Teilhabe am öffentlichen und politischen Leben. „Das Vergnügen war hierbei von besonderer Bedeutung, es diente nicht nur der Zerstreuung oder dem Laster“, sagt der promovierte Historiker. Neben höfischem Theater, Oper und Operette entwickelten sich Musicals und Revuen. Eine Vielzahl von Hotels, Restaurants und Cafés versprach abendliches Amüsement. Parallel zu den Soiréen in den Salons belebten Straßenkünstler die Hinterhöfe der Arbeiterviertel.

Der Anstoß für die Erforschung der Unterhaltung am Hofe und in den Hinterhöfen der Hauptstadt gab das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierte Projekt „Theater und Fest in Europa“, an dem der Historiker Tobias Becker, die Historikerin Johanna Niedbalski und die Theaterwissenschaftlerin Anna Littmann beteiligt waren. „Bisher wurden in der Geschichtswissenschaft vor allem die Organisation und Infrastruktur der Städte im 19. Jahrhundert betrachtet oder deren Schattenseiten wie Armut, Rassismus oder Prostitution“, sagt Tobias Becker. Nun sollen neue Schwerpunkte gesetzt werden: Becker untersucht an populären, kommerziellen Theatern im Berlin und London der Epoche, wie sich wirtschaftliche und soziale Hintergründe auf die Bühnenproduktionen auswirkten. Was wurde dargestellt, was war tabu, wie wurden sich verändernde Geschlechterrollen inszeniert?

Johanna Niedbalski forscht zu Vergnügungsparks in den Metropolen jener Zeit. In Berlin bot der Lunapark am Halensee zwischen 1910 und 1933 zahlreiche Attraktionen: Fahrgeschäfte und Feuerwerk, Revuen, Jazzmusik, Kabarett, Tanzturniere und Boxkämpfe. Der junge Max Schmeling gewann hier 1926 seinen ersten Titelkampf. Heute ist von alldem nichts mehr zu sehen. „Der einzige Ort in Berlin, an dem noch Spuren der großen Vergnügungsparks um 1900 zu finden sind, ist die Neue Welt in Neukölln“, sagt die Historikerin. Hierzu gehörten etwa eine Freiluftmanege und eine sogenannte Indische Halle mit Springbrunnen und Kaskaden. Ein 1903 eröffneter Saal bot 2000 Menschen Platz. In der Neuen Welt fanden Theater-Aufführungen statt und politische Versammlungen, im Ersten Weltkrieg wurde sie als Lazarett genutzt und später von den Nazis für Propaganda-Veranstaltungen. Ein Gebäude des Parks existiert noch: Hier finden heute im Club „Huxley's“ Konzerte und Großveranstaltungen statt, zudem gibt es einen Supermarkt und Spielhallen.

Wie sich der Kulturbetrieb von kleinen Familienunternehmen hin zu einer Unterhaltungsindustrie entwickelt hat, ist ein weiterer Aspekt der Forschung. Zudem wird untersucht, wie kulturelles Angebot und modernes Großstadtleben einander bedingten: „Am Vergnügen teilzunehmen, half bei der ,inneren Urbanisierung‘“, sagt Daniel Morat. Wer nicht in der Großstadt aufgewachsen war, musste erst zum Großstädter werden: So galt es zu lernen, wie man sich beim Tanz verhält, an welcher Stelle man in der Oper applaudiert oder wie man sich angemessen kleidet.

Die Recherche ist aufwendig: Zeitzeugen gibt es kaum mehr; die Forscher suchen in Bibliotheken, Archiven oder Sammlungen von Theatern und Museen nach Hinweisen, etwa in der „documenta artistica“ des Berliner Stadtmuseums. Sie ziehen Annoncen, Zeitungen, Postkarten, Plakate, Manuskripte, Bühnenpläne oder Memoiren bedeutender Mimen zurate.

Daniel Morat forscht mithilfe einer Co-Finanzierung durch die Fritz-Thyssen-Stiftung zur „Auditiven Kultur der Großstadt“, zur Musik im öffentlichen Raum der Metropole. Hierzu durchsucht er auch alte Akten der Polizeibehörden und der Gewerbeaufsicht: „Konflikte bergen immer Hinweise auf wertvolle Quellen.“ Denn das war die Kehrseite der modernen Vergnügungswelt: Die Menschen stießen an moralische und gesetzliche Grenzen, beides führte zu handfesten Konflikten. Brandneue Ideen entfachten heftige Debatten, Neuerungen wurden als „Schmutz und Schund“ beschimpft: „Mit jedem modernen Medium kam eine Art moralische Panik auf – vergleichbar vielleicht mit den Vorbehalten, die manche heute gegen Computerspiele hegen“, sagt Tobias Becker.

Die Theaterwissenschaftlerin Anna Littmann forscht zum Vergnügen bei Hofe in den letzten Jahrzehnten der Monarchie in Deutschland und untersucht, wie sich die Politik und die ästhetischen Vorlieben der Regenten auf den Kulturbetrieb der Metropolen ausgewirkt haben: „Das lässt sich herauslesen aus alten Spielplänen des Königlichen Schauspielhauses, dem heutigen Konzerthaus am Gendarmenmarkt, oder der Staatsoper Unter den Linden, der damaligen Hofoper unter Wilhelm II.“

In Berlin, London und New York setzte damals ein regelrechter Vergnügungsboom ein“, sagt Tobias Becker. In London, der Metropole der Alten Welt und Sitz des kolonialen Empires, war das Alltagsleben früher mehr vergnügungsbetont, als in der preußischen Residenzstadt. Auch in New York, der Hafenstadt und Handelsmetropole der Neuen Welt, landeten schon früh viele kulturelle Strömungen auf der Bühne und Leinwand.

Konkurrenz innerhalb und zwischen den Metropolen belebte das Geschäft. So fand schon damals ein reger Austausch der Ideen und Repertoires quer über den Ärmelkanal und den Atlantik statt. Ein Beispiel ist die Operette „Im Weißen Rößl“: im November 1930 in Berlin uraufgeführt, wurde sie kurz darauf am Broadway gefeiert, bevor die Nazis sie in Deutschland verboten. Noch immer sind die Stoffe aus jener Zeit für das Publikum attraktiv: Das „Weiße Rößl“ wurde gerade in der Komischen Oper aufgeführt, und im TIPI-Zelt am Kanzleramt wird „Cabaret“ gegeben. Das Broadway-Musical von 1966 spielt im Berlin der 1930er Jahre und erzählt das Leben des Nachtclubgirls Sally Bowles.

Und wie steht es heute um das Vergnügen in der Metropole? Es gibt zumindest einen essentiellen Unterschied, der auf ein Ereignis am Weihnachtsabend 1930 zurückzuführen ist: Damals gelang die erste elektronische Fernsehübertragung. Das abendliche Vergnügen landete damit in den Wohnzimmern. Wer von den heutigen Stars unterhalten werden will, muss weder das Haus verlassen noch Abendrobe oder Frack anlegen – ganz im Gegensatz zu früher. Bleibt nur die Frage, was amüsanter ist.