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Architektur(ver)führer

Neues Buch über Hochschulbauten und Planungsgeschichte der Freien Universität Berlin

18.12.2010

Wer sich als „älteres Semester“ an sein Studium an der Freien Universität Berlin erinnert, erinnert sich naturgemäß an die Lehrveranstaltungen in den mehr oder minder prächtigen Dahlemer Villen; die Religionsphilosophen in einem Einfamilienhaus in der Boltzmannstraße, die Literaturwissenschaftler mit Peter Szondi und Eberhard Lämmert erst im bescheidenen Häuschen am Kiebitzweg – heute Otto-von-Simson-Straße –, dann im neobarock ausschwingenden Palais in der Rheinbabenallee, schließlich in der hoch eleganten Neuen Sachlichkeit der Villa Flechtheim am Hüttenweg.

Umgezogen wurde seinerzeit viel und oft. Gewiss, von den späten siebziger Jahren an war es das Privileg der kleinen Fächer in den Geistes- und Sozialwissenschaften mit wenig Studentenandrang, in den Gehäusen der einstigen Gesellschaftselite zu residieren.

Manches war Notbehelf, vieles Improvisation, aber geschadet hat es sicher weder Studium noch Fach. Und man behaupte nicht, dass aus dem Raumgefühl und der Atmosphäre dieser Gebäude nicht doch etwas abfärbte auf den Status oder die Befindlichkeit des Fachs und seiner Absolventen. Erst als die Literaturwissenschaftler in die sogenannte Rostlaube an der Habelschwerdter Allee „einquartiert“ wurden, verloren sie etwas von ihrem Fluidum, weil sie nun in der architektonisch gewollten Ort- und Orientierungslosigkeit dieses strukturellen Flächenbrands verschwanden.

Aber natürlich konnte die Freie Universität aus dem Jonglieren mit den Hausbeständen kein Profil gewinnen. Der gewaltige Platz- und Raumbedarf der naturwissenschaftlichen Fächer – und besonders die geradezu stürmische Entwicklung von der Spontangründung 1948/49 zur Volluniversität von heute – sprengte den vorgefundenen Rahmen und erforderte eine durchgreifende Planung. Die Kunsthistorikerin Martina Schilling hat sich nun in einem außerordentlich verdienstvollen Buch dieser Architektur- und Planungsgeschichte der Freien Universität angenommen. Mit einem Seminar am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität hat sie die Geschichte erarbeitet und die durchgängig vorzüglichen Einzelanalysen und Darstellungen ihrer Studenten, Mitarbeiter und einiger Kollegen zum „Architekturführer zu den Hochschulbauten der Freien Universität Berlin“ zusammengestellt. Bedauerlicher, aber aus sachlogischen Gründen einsichtiger Weise hat sie dabei die erste „Nutzungsschicht“ der Freien Universität, besagte Villen und Landhäuser ausgeblendet. Sie waren zwar für die Unterbringung und das Aufnehmen des Lehr- und Forschungsbetriebs enorm wichtig, aber mittlerweile sind sie großenteils wieder aufgegeben worden. Vor allem fügen sie sich nicht der Baugattung „Hochschulbau“, aus der die Universität nun wiederum ihr architektonisches Profil gewinnen will, um in der baulichen Konkurrenz zu Bochum oder Konstanz, Bielefeld oder der Humboldt-Universität bestehen zu können.

Der Kern des Buches sind Einzelbetrachtungen zu 46 Gebäuden, die für die Architektur- wie Planungsgeschichte der Freien Universität repräsentativ und bedeutend sind. Sie sind eingeteilt in drei Spaziergänge durch den südwestlichen und den nordöstlichen Campus sowie entlang der Königin-Luise-Straße nahe dem alten Dorfkern Dahlems. Ein viertes Kapitel behandelt – ohne Routenplan – die Bauten außerhalb des topographisch klar umrissenen Gebiets. Sie liegen in Steglitz oder gar in Wilmersdorf. Alle vier Kapitel sind mit einer Einleitung versehen, in der zusammenfassend Ausdruck und Gewicht für die sich im Lauf der Jahrzehnte ändernden Planungsparadigmen dargelegt werden.

Üblicherweise sind Architekturführer eine dürre Kost – es lohnt meist nur sie anzuzeigen, nicht, sie zu besprechen. In diesem Falle ist das anders. Der Band versammelt nicht nur gewichtige Einsichten in Planungskontexte und architektonische Intentionen, sondern in vielen Fällen geradezu herausragende Beispiele architekturkritischer Prosa. Gelegentlich liest man sie (staunend) lieber, als die Objekte zu betrachten. Das gilt vor allem für die Bauten ab den 1960er Jahren, von den Instituten für die Rechts- und Wirtschaftswissenschaften über die der Physik und Chemie bis zum befremdlichen Haus für die Studentenschaft, das heutige Weiterbildungszentrum in der Otto-von-Simson-Straße. Die Rost- und Silberlaube spielt eine zentrale Rolle im architektonischen Selbstverständnis der Universität. Aber erst, seit die Philologische Bibliothek von Lord Norman Foster 2005 die entindividualisierenden Planungsintentionen von Candilis/Josic/Woods mit einer starken Bildarchitektur konterkariert hat, taugt sie zu solchen Identifikationen. Das kommt in der Darstellung der Bauten deutlich zu kurz.

Aber ein Schmankerl ist die Beschreibung der Mensa I (Fehling/Pfankuch, 1953) durch Christian Welzbacher. Schonungslos elegant und klar legt er dar, mit welch brutaler Gewalttätigkeit die Nachkriegsmoderne gegen die Umgebung vorging; eine städtebauliche „Brückenfunktion“ wurde mit „größtmöglichem gestalterischen Kontrast zu sämtlichen Nachbarschaften demonstriert“: Eine Brücke durch Kontrast zu schlagen heißt, den Abgrund zur lieblichen Aue zu erklären. Ohrfeigen und Maulschellen waren die heimliche Räson der Nachkriegsmoderne; ein Thema, über das bei der heutigen Larmoyanz über ihre Hinfälligkeit viel zu wenig gesprochen wird.

Dem gegenüber sind die Erläuterungen der Gebäude des „Deutschen Oxford“ in Dahlem von vor 100 Jahren, die Institute der Kaiser-Wilhelm-, der heutigen MaxPlanck-Gesellschaft, eine wahre Fundgrube. Sie sind ebenso lehrreich wie vergnüglich zu lesen, auch weil die Bauten dem beschreibenden Auge noch Stoff und Abwechslung boten. Die Architekturen von Ernst von Ihne, Heinrich Straumer, Carl Sattler und anderen sind ja nicht nur wissenschaftsgeschichtlich der Nachlass der Freien Universität, sondern auch architektonisch. An ihnen ist zu lernen, was in modischer Allfälligkeit heute nachhaltiges Bauen heißt – oder heißen sollte; bei neueren Bauten häufen sich die Hinweise auf Konstruktionsmängel, Aufheizungseffekte oder Materialermüdungen geradezu Bedenken erregend. Es ist Martina Schilling zu danken, dass sie den sonderbaren Kreisschlag der Planungsparadigmen von heftiger Ablehnung und Verweigerung durch die kurzfristige Wahnidee modernistischer „Teppich- und Megastrukturen“ zur Rückgewinnung individuell gestalteter Physiognomik der Wissenschaftsbauten zulässt und akzentuiert. Selbst wenn nun ausgerechnet die postmoderne Melancholie des Philosophischen Instituts (Inken/Hinrich Baller, 1984) mit den hängenden Dachschultern dafür als leuchtendes Beispiel herhalten muss. Seit Wissenschaft zur Dienstleistung mutiert ist und unsere Gesellschaft sie sich nicht mehr selbstverständlich leistet, sondern immer nur etwas kosten lässt, sind die Universitäten nivelliert. Wie alle anderen Dienstleister auch müssen sie um Kunden, früher Studenten und Forscher genannt, konkurrieren.

Ein Element dieses Werbens ist der „Standortfaktor“, also die Architektur, die Lage in der Stadt und das historische Renommee. Hier ist ein Grund dafür zu sehen, dass jetzt mit dem neuen Campus-Führer die Architektur der Freien Universität in den Fokus der Beschäftigung rückte. Dass es auf diesem ausgezeichneten Niveau geschieht, war nicht ohne Weiteres erwartbar, entspricht aber vollauf dem, was die Freie Universität letzthin in der Konkurrenz der deutschen Universitäten geworden ist: eine Exzellenz. Dieses Buch ragt aus der üblichen Beschäftigung mit Architektur wohltuend hervor und lohnt so manches Nachdenken über ihre kulturpolitische Einbettung.

Martina Schilling (Hg.): „Freie Universität Berlin – Ein Architekturführer zu den Hochschulbauten“, 208 Seiten, 244 Abbildungen, Braun Publishing AG, ISBN 978-3-03768-017-9, 19,90 Euro