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Sonntagsspaziergang durch das „Deutsche Oxford“

An vielen Orten des Forschungscampus Dahlem können Spuren einer reichen Wissenschaftstradition entdeckt werden

18.12.2010

November auf dem Campus der Freien Universität. Wo wochentags Studierende umhereilen, stöbern heute nur einzelne Hunde – ihre Herrchen im Schlepptau – durch das Laub. Es ist windig, die Temperatur gefühlt schon unter null Grad. Zwölf Spazierwillige haben sich dennoch vor dem Harnack-Haus eingefunden. Sie wollen bei einer Führung der Kulturprojekte Berlin GmbH in Kooperation mit der Max-Planck-Gesellschaft eintauchen in die Faszination des „Deutschen Oxford“, das hier vor 100 Jahren auf Feldern der königlichen Domäne Dahlem entstand. Eine Villenkolonie im Grünen, in der Forscher von Weltrang arbeiteten und wohnten.

Es war eine Vision des Ministerialdirektors Friedrich Althoff, die der Theologe und Geheimrat Adolf von Harnack dem Kaiser nahebrachte.

Mit Erfolg: 1911 wurde die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) gegründet und Harnack ihr erster Präsident. Bereits 1912 eröffneten die ersten beiden Institute, entworfen von Ernst von Ihne, dem Architekten des Bode-Museums. Protzige wilhelminische Stadtbauten entstanden auf dem flachen Acker. Details erfahren die Teilnehmer der Führung im Warmen, drinnen im Harnack-Haus, einem dreiteiligen Bau bestehend aus Clubhaus (mit Restaurant und Zimmern für Gastprofessoren), Übergang und Hörsaal. Erbaut wurde es als ein Ort wissenschaftlicher Kommunikation.

Architekt Carl Sattler fand dafür eine elegante, zeitlose Formensprache in Anklang an heimatliche Villenarchitektur. Für Vergnügen und Entspannung sorgten Tennisplätze, später auch ein (unbeheiztes) Freibad. Nach 1945 wurde das Areal Offizierskasino der Amerikaner. Seit 2000 nutzt es die Max-Planck-Gesellschaft wieder im ursprünglichen Sinn.

Daneben befindet sich das Otto-Suhr-Institut der Freien Universität – einst Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, gegründet1926. Hier, wo man die Rassengesetze der NS-Zeit wissenschaftlich zu untermauern suchte, erforschte Otmar Freiherr von Verschuer das Zwillings-Phänomen. Die perfide Verstrickung von Forschung und NS-Ideologie erwähnt Campusführerin Katrin Herbst von FührungsNetz, das zur Kulturprojekte GmbH gehört, dezent: „Hauptsächlich sammelte, vermaß und beschrieb man hier im Haus.“ Für viele Menschen bedeutete dies Qual und Tod, denn sie wurden im Konzentrationslager Auschwitz von KZ-Arzt Josef Mengele ausgewählt und für die wissenschaftliche Forschung des Instituts bestimmt.

Den Henry-Ford-Bau der 1948 gegründeten Freien Universität im Rücken, gleitet der Blick über die Garystraße zu einem Herrenhaus: dem 1930 erbauten ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Institut für Zellphysiologie. Das Gebäude trägt nicht ganz den Stil der modernen Sachlichkeit, für die Architekt Carl Sattler stand. Es ist eher pompös – auf Wunsch des Nobelpreisträgers und Institutsdirektors Otto Heinrich Warburg. Ein guter Ort, um über das „Harnack-Prinzip“ zu sprechen. Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft baute ihre Institute um herausragende Wissenschaftler „herum“ und ließ ihnen Mitspracherecht bei der Gestaltung der Gebäude. Der Kaiser spendierte seinen Namen und Grundstücke, Stiftungen gaben das Geld. Kleine Parks, im Sommer beliebte Lagerstätten der Studierenden, durchziehen noch immer das Gelände wie ein grünes Band. Zwei Jogger überholen die Gruppe. Nächste Station: das Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie (1915) in der Boltzmannstraße, später das erste Hauptgebäude der Freien Universität, heute genutzt vom Fachbereich Rechtswissenschaft. Katrin Herbst erklärt, dass alle Institute Nord-Süd-Ausrichtung hatten, dunkle Dächer und hellen Putz – wegen des neutralen Lichts für Experimente. Der Chemiker und Nobelpreisträger Richard Willstätter erforschte hier Pflanzenfarbstoffe. Seine „Zöglinge“ füllten diverse Gewächshäuser, und zur Freude von Lise Meitner gab es ein Blumenfeld. Die Physikerin bewunderte die Pracht vom benachbarten und 1912 eröffneten Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie aus. Aus heutiger Sicht unerklärlich, blieb Meitner der Nobelpreis für die 1938 dort entdeckte Kernspaltung verwehrt, obwohl sie an der Entdeckung entscheidend beteiligt war. Nur Otto Hahn wurde bedacht. Das kürzlich in Hahn-Meitner-Bau umbenannte Gebäude beherbergt jetzt Biochemiker der Freien Universität.

Weiter geht's zum Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft im Faradayweg, 1912 gegründet als Kaiser-Wilhelm-Institut für physikalische Chemie und Elektrochemie. Gründungsdirektor Haber entwickelte das Verfahren zur Ammoniaksynthese, was erst Jahrzehnte später von Gerhard Ertl molekular erklärt werden konnte und beiden jeweils einen Nobelpreis einbrachte.

Schlusspunkt des Rundganges ist die Willstätter-Villa in der Hittorfstraße, heute ein Veranstaltungszentrum. Hier sind die Teilnehmer wirklich angekommen im „deutschen Oxford“, in einem idyllischen Park, der nun von Erweiterungsbauten des Fritz-Haber-Instituts umgeben ist. Ein schmaler Weg unter alten Bäumen führt vorbei an einem Seerosenteich. Rechts, auf einer Anhöhe, die Villa. Welch unglaublichen Charme die Idee vom Forschen und Wohnen im Grünen doch hatte! Man sieht Willstätter vor sich, wie er gedankenverloren durch den Park schreitet. Vielleicht kam Albert Einstein mal vorbei, er wohnte 1914 in Sichtweite – bei Fritz Haber unter dem Dach.

Max-Planck-Gesellschaft und Freie Universität leben die Vision eines „Deutschen Oxford“ bis heute – durch regen Austausch auf dem Forschungscampus Dahlem.

Die Kulturprojekte GmbH bietet auch 2011 Führungen über den Wissenschaftscampus Dahlem an; Termine können unter 030 / 247 49 888 oder per E-Mail unter museumsinformation@kulturprojekte-berlin.de vereinbart werden.