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Balance zwischen zwei Welten

In einem bundesweit einmaligen Familienkurs an der Freien Universität Berlin werden gehörlose Eltern und ihre hörenden Kinder für Alltagssituationen gestärkt

19.02.2011

Von Carsten Wette

Die neunjährige Eva wird von Gleichaltrigen bedrängt. „Deine Eltern reden so komisch“, zischt Lea und macht abfällige Gesten. Max ruft: „Deine Eltern sind minderbemittelt!“ Eva zögert und sagt leise: „Gehörlos wird man, wenn man vom Hochhaus fä …“ – „Stopp!“, ruft Charlotte Peter. Die Psychologin tritt in die Mitte der Gruppe. „Wie fühlt sich Eva jetzt? Was können wir machen?“, fragt sie und blickt in 14 Kinderaugen. Die 32-Jährige leitet einen Kurs für hörende Kinder, deren Eltern taub sind. In den Räumen der Evangelischen Gehörlosengemeinde in Kreuzberg geht es an diesem Trainingstag um Erfahrungen und Gefühle, die für diese Kinder zum Alltag gehören – so wie die gespielte Situation, die in dieser oder ähnlicher Weise auf jedem Schulhof vorkommen könnte.

Anhand von Fragen werden Problemlösungen erarbeitet und spielerisch ausprobiert. Die Rolle von Eva in der unterbrochenen Spielsituation hätte jedes der sieben Kinder im Raum übernehmen können, denn sie alle haben Eltern, die nicht hören können: „Die Art und Weise, wie die Kinder die Situation umgesetzt haben, zeigt, dass sie solche Diskriminierungen alle selbst schon einmal erlebt haben“, sagt Charlotte Peter.

Die Idee für das bundesweit einmalige Familienprogramm, zu dem der Trainingskurs für Kinder und ein weiterer für taube Eltern gehören, hatte Charlotte Peter während ihrer Diplomarbeit an der Freien Universität. Dabei erforschte sie die Lebenssituation hörender Kinder gehörloser Eltern; von Kindern, die sich selbst – abgeleitet vom Akronym der englischen Bezeichnung Child Of Deaf Adult – als CODA bezeichnen. In Gesprächen mit den bereits erwachsenen Betroffenen und im Kontakt mit Beratungsstellen wurde Charlotte Peter immer wieder deutlich, dass es für taube Eltern und deren hörende Kinder zu wenig Unterstützungsangebote gibt – obwohl sie nötig wären.

Kinder Gehörloser wachsen mit der Vielfalt von Laut- und Gebärdensprache auf, sie werden in der Kultur der Hörenden ebenso sozialisiert wie in der der Gehörlosen. Doch kann dies auch zu Belastungen und Identitätskonflikten führen: Die Kinder beginnen schon mit etwa vier Jahren automatisch, zwischen Personen beider Welten zu vermitteln und zu dolmetschen. Sie übernehmen mit zunehmendem Alter viel Verantwortung; dabei wandern sie – in beiden Welten – stets auf dem schmalen Grat zwischen Zugehörigkeit und Ausgrenzung.

Inzwischen erwachsene Betroffene berichteten Charlotte Peter von bereichernden Erfahrungen ebenso wie von Situationen, mit denen sie überfordert waren. Häufig waren es solche Momente, die mit unangenehmen Gefühlen einhergingen: die Krankmeldung der Eltern, die selbst nicht telefonieren können, das Dolmetschen bei Behördengängen oder beim Arzt. Besonders schlimm ist es für die Kinder, wenn sie erleben, wie die Eltern - und als deren Kinder auch sie selbst – von Hörenden ausgegrenzt werden, oft nur aus der Unsicherheit der anderen heraus. Das geschieht offen oder subtil – und sei es dadurch, dass ihre Eltern unter Hörenden behandelt werden wie Luft, etwa bei Familienfesten. „Eine starke Beziehung und ein intensiver Austausch zwischen gehörlosen Eltern und ihren Kindern ist deshalb sehr wichtig", sagt Charlotte Peter, die inzwischen am Arbeitsbereich Entwicklungswissenschaft und Angewandte Entwicklungspsychologie über das Thema promoviert. In den acht Kurseinheiten werden die Herausforderungen spielerisch aufgegriffen: Die Identifikationsfigur der Kindergruppe ist ein Chinchilla – eine Hasenmaus, die sich auf die Suche macht nach ihrer Identität zwischen Hasen und Mäusen, letztendlich ihre bikulturelle Identität entdeckt und damit einzigartig ist wie die Kinder selbst. Die Acht- bis Zwölfjährigen lernen, Stress zu bewältigen, Probleme zu lösen, und sie werden dazu ermuntert, sich über ihre Erlebnisse und Gefühle mit den Eltern auszutauschen.

In einem anderen Raum der Kreuzberger Einrichtung „fliegen“ die Hände: Im Elternkurs vermittelt Stephanie Raith-Kaudelka den Teilnehmern heute Erziehungsziele und -stile. Fast nie oder allenfalls mit Verzögerung erschließt sich einem Beobachter ohne Gebärdensprachkenntnisse das Vermittelte – zu flink sind die eleganten Gesten, zu schnell wechseln Körperhaltung und Mimik. Die 31-Jährige ermuntert die Eltern in einer Kennenlern-Übung, ein Selbstporträt zu zeichnen. Sie halten sich dabei ein Blatt Papier vor die Brust, dürfen es aber nicht ansehen und malen ihr eigenes Gesicht, indem sie allein den Anweisungen des gegenübersitzenden Spielpartners in Gebärdensprache folgen. „Um die gehörlosen Eltern in dem Kurs zu erreichen, ist es absolut notwendig, die Gebärdensprache zu beherrschen“, erklärt Kursleiterin Stephanie Raith-Kaudelka, die selbst taub ist und zwei hörende Kinder hat (siehe Interview). „Die Eltern freuen sich, dass ich so bin wie sie und ähnliche Ängste, Probleme und Freuden habe.“ Dies breche das Eis und erleichtere es, auch über tiefergehende Gefühle zu gebärden.

Es war ein großer Zufall, dass sich Charlotte Peter und Stephanie Raith-Kaudelka für den Kurs zusammenfanden. Die Idee, auch einen Elternkurs anzubieten, hatte Charlotte Peter recht bald nach dem Plan für das Kindertraining. Doch wie umsetzen? Über ein Netzwerk von Fachleuten, die mit gehörlosen Eltern und ihren hörenden Kindern arbeiten, lernte sie Stephanie Raith-Kaudelka kennen, die eine Diplomarbeit über Elternbildung für Gehörlose schrieb. „Wir ergänzen uns perfekt“, sagt Charlotte Peter. Inzwischen gibt es ein Fachbuch zum Kursprogramm und einen Elternratgeber für Gehörlose, den Stephanie Raith-Kaudelka auch für eine mehrstündige DVD in Gebärdensprache übersetzte.

„Gehörlose erziehen ebenso kompetent und liebevoll wie Hörende“, sagt Charlotte Peter. Im Alltag würden sie allerdings mit besonderen Herausforderungen konfrontiert: Sie seien wegen ihrer Schwierigkeiten im Umgang mit der Schriftsprache von einem Großteil wichtiger Informationen in den Medien ausgeschlossen, betont die Psychologin. Sie könnten sich weniger leicht etwa über Schulprobleme austauschen und stünden bei Elternabenden am Rand. Sie erlebten häufig, dass Hörende – manchmal die eigenen Eltern – ihnen die Erziehungskompetenz absprächen und sich einmischten. Zudem könne die besondere Position der Kinder in der Familie einen Rollentausch und Autoritätsverlust zur Folge haben. Sozialarbeiterin Raith-Kaudelka greift diese Themen in fünf Kurseinheiten auf. Sie vermittelt Selbstbewusstsein dafür, wie man mit dem Taubsein umgeht, für die Kommunikation mit Gebärden in der Öffentlichkeit und für das Selbstverständnis als Elternteil – gegenüber Erziehern, Lehrern und den eigenen Eltern: „Die Teilnehmer fühlen sich nach dem Kurs stärker.“

Im Raum von Charlotte Peter überbieten sich die Kinder inzwischen mit Ideen dafür, wie Eva auf den entgegengebrachten Spott reagieren sollte. Die achtjährige Sophie schlägt vor: „Ich würde sagen, ich bin stolz auf meine Eltern, und außerdem kann ich die Gebärdensprache! Es ist mir egal, was Ihr denkt.“ Lea schlägt vor, eine Lehrerin zu rufen. Das Für und Wider und die möglichen Folgen aller Vorschläge werden in der Gruppe diskutiert – ihren Lieblingsvorschlag hat Eva vielleicht einmal auf dem Schulhof in der Hinterhand.