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„Internet ist das Beste, was uns passieren konnte“

Ein Interview mit der gehörlosen Sozialarbeiterin Stephanie Raith-Kaudelka

19.02.2011

Stephanie Raith-Kaudelka, geboren in Holzkirchen bei München, studierte Sozialarbeit in Berlin. Sie ist Mutter von zwei kleinen Kindern. Die 31-Jährige ist seit Geburt taub und wuchs als Kind gehörloser Eltern auf; auch ihr Ehemann kann nicht hören. Sie leitet gemeinsam mit Charlotte Peter den an der Freien Universität entwickelten Familienkurs für gehörlose Eltern und hörende Kinder.

Frau Raith-Kaudelka, Sie sind taub, beherrschen aber die Lautsprache. Wie haben Sie eine Sprache sprechen gelernt, die Sie akustisch nicht verstehen?

Das war sehr mühsam, meine hörende Großmutter hat es mir beigebracht.Ich bin taub, mit einem Hörgerät kann ich allerdings viele Geräusche definieren. Das hat das Lernen etwas erleichtert.

Wenn Hörende Sie sprechen hören und ansprechen – führt das zu Missverständnissen?

Ja, oft – manchmal geht dann alles schief – etwa bei Absprachen mit Unternehmen über Renovierungsarbeiten. Dann zücke ich mein Handy oder Block und Stift.

Was macht Sie ärgerlich?

Wenn Fremde auf der Straße in solchen Situationen weggehen, doch das ist seltener geworden. Viele Leute sind offen gegenüber Taubheit, gerade in Berlin. Immer wieder aber verletzt mich die Frage: „Wie lautet Ihre Telefonnummer?“

Wie ist es, wenn Sie reisen?

Wir Gehörlosen sind ein reisefreudiges Völkchen, wir fliegen praktisch überall hin. Probleme haben wir selten, denn viele von uns können Englisch, das schreiben wir dann auf. Und wenn zum Beispiel ein Grieche auf einer Kykladeninsel mal kein Englisch lesen kann, benutzen wir unsere Hände – denn die Gebärdensprache versteht jeder auf der Welt, auch wenn es vielen nicht bewusst ist.

Gebärden Gehörlose heute häufiger als in Ihrer Kindheit?

Ja, früher haben sich viele Taube für ihre Sprache geschämt. Meine Eltern sind dagegen immer sehr selbstbewusst damit umgegangen. Ich war als Kind auf Demonstrationen zur Anerkennung der Gebärdensprache …

… die seit 2002 in Deutschland offiziell anerkannt ist. Was hat das bewirkt?

Früher war das Gebärden als „Sprache der Affen“ verpönt, und wir wurden nachgeäfft. Mein Vater hat als Kind deshalb auch schon mal Jungs verprügelt. Die Toleranz gegenüber der Gebärdensprache hatte kaum Wert – das Gebärden wurde nur als Hilfsmittel betrachtet und war nicht gern gesehen. Wer sprechen und Lippen lesen konnte, hatte es oft einfacher. Durch die Anerkennung standen uns Tauben viele Wege frei, beispielsweise dadurch, dass die Krankenkassen oder Ämter jetzt den Einsatz von Gebärdensprachendolmetschern bezahlen müssen. Und es ist ein gutes Gefühl, dass das Gesetz jetzt hinter uns steht, wenn wir wegen der Gebärdensprache diskriminiert werden. Das gewachsene Selbstbewusstsein ist aber auch dem Internetzeitalter zu verdanken.

Welche technischen Neuerungen erleichtern Ihren Alltag?

Das Internet ist das Beste, was uns passieren konnte. Früher musste man für Informationen überall hinlaufen – heute holt man sich einfach alles aus dem Netz. Es gibt Videotelefonie und eine Telefonvermittlung für Taube. Die Barrieren sind niedriger geworden. Nur in den Köpfen mancher Menschen müssen sie noch weg.

Wie träumen Sie?

In Gebärden.

Die Fragen stellte Carsten Wette