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Zur Literaturrecherche nach Cambridge

Grenzenlos forschen: Die Friedrich-Schlegel-Graduiertenschule baut ihr internationales Netzwerk aus

19.02.2011

Von Florian Michaelis

Am Anfang kam sich Uta Schürmann vor, als säße sie in der Kulisse eines Harry-Potter-Films: der ehrwürdige Campus, die verwinkelte Bibliothek mit den hohen Decken, die schwarzen Roben bei der feierlichen Begrüßung – die britische Universität Cambridge sieht einfach ein bisschen aus wie die Zauberschule Hogwarts. „Eine fremde Welt voller fremder Traditionen“, sagt die 29-Jährige, „das war schon ein kleiner Kulturschock, aber ein positiver.“ Sie stürzte sich in das akademische Leben, machte all die Zeremonien mit, suchte sich einen Stammplatz in der Bibliothek, setzte sich in Seminare und wühlte sich durch riesige Literaturbestände, vor allem durch Zeitschriftenartikel aus dem 19. Jahrhundert.

Eigentlich forscht Schürmann als Doktorandin an der Friedrich-Schlegel-Graduiertenschule der Freien Universität in Dahlem. Hier werden herausragende literaturwissenschaftliche Dissertationsprojekte betreut – ein Konzept, das in der Exzellenzinitiative erfolgreich war und mit dem sich die Freie Universität erneut bewirbt. Doch im vergangenen Herbst ging Schürmann für zweieinhalb Monate nach Cambridge, einem der wichtigsten Kooperationspartner der Schlegel–Schule, um für ihre Dissertation zu recherchieren. Der Arbeitstitel lautet „Das Interieur als erzählstrukturierender Handlungsort des europäischen Realismus“. Schürmann ist eine literarische Spurensucherin: Sie untersucht unter anderem, wie Autoren wie Edgar Allan Poe, Charles Dickens, Honoré de Balzac oder Theodor Fontane durch die Schilderungen von Details in einem Raum eine Person charakterisieren. Wie sie ihre Personen nicht direkt beschreiben, sondern anhand von Spuren, die sie in einem Raum hinterlassen. In Cambridge beschäftigte sich Schürmann intensiv mit der britischen Kriminalistik des 19. Jahrhunderts, denn die hat die Literatur der Zeit stark beeinflusst. „Man versuchte damals, einen Kriminellen möglichst genau zu vermessen“, sagt sie. „Dieser Wunsch nach Exaktheit spiegelt sich auch in den Texten wider, die ich untersuche.“

Die Doktorandin profitiert so von der Internationalisierungs-Strategie der Schlegel-Schule. Gezielt baut man in der Graduiertenschule Partnerschaften mit literaturwissenschaftlichen Fakultäten anderer Universitäten auf, um den wissenschaftlichen Austausch zu fördern – und will dies noch intensivieren: „Wir werden unser Programm behutsam erweitern“, sagt Irmela Hijiya-Kirschnereit, seit Herbst 2010 Direktorin der Schule. Ihre Berufung versteht die Japanologie-Professorin auch als Signal: dafür, dass künftig noch stärker auch Forschungsvorhaben über nicht-europäische Literaturen betreut werden, etwa asiatische und arabische. „Die Entwicklung der Literatur kann man nur über den europäischen Rahmen hinaus wirklich ernsthaft betrachten. Zumal unser Programm eine ausgeprägte komparatistische Komponente enthält.“ Schon jetzt gibt es etwa Projekte, die sich mit der Literatur des Maghreb oder mit japanischer Literatur beschäftigen.

Zwar besteht zu Cambridge eine besonders enge Verbindung, eine „privilegierte Partnerschaft“, wie Susanne Scharnowski sagt, die Geschäftsführerin der Schlegel-Schule. Doch es kommen enge Kooperationen mit Hochschulen in den USA, Frankreich und der Schweiz hinzu. Geplant ist auch die Zusammenarbeit mit einer weiteren renommierten britischen Universität: Oxford. Scharnowski freut sich, dass sich der Ruf der Schlegel-Schule herumgesprochen hat, so dass es mittlerweile auch viele Absolventen aus dem Ausland gibt, die sich um einen Platz an der Schule und um ein Stipendium bewerben.

Neben der intensiven Betreuung der Dissertationsvorhaben und dem internationalen Austausch beruht das Konzept der Schule auf zwei weiteren Säulen: Zum einen beschäftigen sich die Doktoranden intensiv mit Methodologie und Theorie – was ihnen sowohl beim Bearbeiten des eigenen Themas hilft als auch beim Verständnis der Fragestellungen von Kommilitonen. Zum anderen werden den Promovierenden Fähigkeiten vermittelt, die wichtig für die praktische Arbeit in einem akademischen Beruf sind. „Dazu gehören etwa Projektmanagement, Wissenschaftskommunikation in englischer und deutscher Sprache sowie Hochschuldidaktik“, sagt Scharnowski. „Durch die Mitwirkung an Lehrveranstaltungen erhalten die Doktoranden zudem Gelegenheit, das theoretische Wissen einzusetzen, und sie sammeln erste Lehrerfahrungen.“

Gerade arbeiten die Doktoranden an einer eigenen Online-Publikation, bei der sie von der Organisation bis hin zum Lektorat alle Arbeitsschritte kennenlernen. Sie veröffentlichen die Ergebnisse einer selbst organisierten Tagung im Clubhaus der Freien Universität zu den „Möglichkeiten und Grenzen der Philologie“. Das Besondere: Die Texte werden als PDF-Dokumente mit einer sogenannten Open-Access-Software ins Netz gestellt, so dass jeder darauf zugreifen kann. „Der normale geisteswissenschaftliche Aufsatz hat in der Regel nur wenige Leser, durch solche Publikationen möchten wir sichtbarer werden“, sagt Scharnowski.

Während Doktorandin Schürmann schon wieder zurück in Dahlem ist, hat sich ihre Kommilitonin Zuzanna Jakubowski gerade erst auf den Weg gemacht – allerdings nicht nach Cambridge, sondern an die University of Chicago, einem weiteren engen Kooperationspartner der Schlegel-Schule. Sie untersucht, wie Autoren amerikanischer Familienromane mit Authentizität umgehen, etwa Jonathan Frantzen. „Es gibt zurzeit eine spürbare Sehnsucht nach Aufrichtigkeit in der Literatur“, sagt die 30-Jährige. Spannend sei es herauszufinden, mit welchen erzählerischen Mitteln Autoren versuchten, Texte authentisch wirken zu lassen. Vorläufiger Titel ihrer Arbeit: „Homely and real“. Sie profitiert einerseits sprachlich von dem Auslandsaufenthalt, denn sie schreibt ihre Dissertation auf Englisch. Zum anderen kann sie bei den für ihr Thema wichtigen Experten Kurse besuchen und sich betreuen lassen. „Das ist eine wahnsinnig produktive Zeit hier“, sagt sie. Wie in einem Harry-Potter-Film kommt sich Jakubowski allerdings eher selten vor. Zwar sind die Bibliothekshallen auf dem Campus in Chicago mindestens so eindrucksvoll wie jene in Cambridge. Doch zum Arbeiten setzt sich die Doktorandin lieber in den Neubau nebenan, da kann sie sich besser konzentrieren.