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Bruch mit der Einsamkeit

Die Schriftsteller Daniel Kehlmann und Adam Thirlwell sind in diesem Sommersemester Samuel-Fischer-Gastprofessoren am Peter-Szondi-Institut der Freien Universität

18.04.2011

Daniel Kehlmanns 2005 erschienener Roman: "Die Vermessung der Welt " wurde in 40 Sprachen übersetzt.

Daniel Kehlmanns 2005 erschienener Roman: "Die Vermessung der Welt " wurde in 40 Sprachen übersetzt.
Bildquelle: Billy&Hells

Adam Thirlwell debütierte 2003 mit seinem Roman "Strategy". Seitdem gilt er als "Wunderkind" der britischen Literatur.

Adam Thirlwell debütierte 2003 mit seinem Roman "Strategy". Seitdem gilt er als "Wunderkind" der britischen Literatur.
Bildquelle: Adam Studiox

Von David Bedürftig

Nur der flackernde Schein einer Kerze bringt ein wenig Licht ins Dunkle der spärlich eingerichteten Stube. Gerade so viel Helligkeit, dass Feder, Tinte und Manuskript zu erkennen sind. Ein Holzstuhl vor dem überladenen Tisch bietet eine dürftige Sitzmöglichkeit, um ihn herum stapeln sich Bücher. Im von der Außenwelt abgeschlossenen stillen Kämmerlein kritzelt der Dichter eifrig seine Verse, haucht der Romancier seinen Figuren Leben ein. Das ist die verbreitete Vorstellung von der Schöpfung literarischer Werke. In jener Wahrnehmung ist Literatur eng verbunden mit Weltabgewandtheit und Einsamkeit.

Beispiele von Schriftstellern, die sich von der Außenwelt abkapseln, gibt es genug.
1841 zog sich August Heinrich Hoffmann von Fallersleben auf die Insel Helgoland zurück, um – nur umgeben von Dünen und Meer – „Das Lied der Deutschen“ zu schreiben, dessen dritte Strophe heute als Nationalhymne dient. Der russische Dichter Leo Tolstoi suchte die Einsamkeit auf dem Familien-Landgut Jasnaja Poljana, um „Krieg und Frieden“ und „Anna Karenina“ zu entwerfen. Der Ire George Bernhard Shaw arbeitete stets in einem kleinen Gartenpavillon. Während er immerhin eine Telefonleitung zum Haupthaus besaß, schottete sich der norwegisch-walisische Schriftsteller Roald Dahl in einer winzigen Hütte mit heruntergelassenen Rollläden vollkommen von seiner Umgebung ab – nicht einmal seiner Ehefrau gewährte er Zutritt. Martin Luther zog sich so weit von der Außenwelt zurück, dass ihm, der Legende nach, beim Übersetzen der Bibel in seinem Kämmerlein auf der Wartburg der Teufel erschien.

Längst ersetzen Laptop und Drucker Feder und Tinte – doch wie verhält es sich mit der Zurückgezogenheit der Dichter? Dieser Frage gehen in diesem Sommersemester der in München geborene Autor Daniel Kehlmann und der britische Schriftsteller Adam Thirlwell in einem Seminar an der Freien Universität Berlin nach. Kehlmann und Thirlwell bekleiden gemeinsam die Samuel-Fischer-Gastprofessur am Peter-Szondi-Institut – und geben damit gewissermaßen das Seminar-Thema vor: „Kollektive Autorschaft“. Was, wenn ein Schriftsteller nicht in totaler Isolation schreibt, sondern gar gemeinsam mit anderen?

Die beiden Samuel-Fischer-Gastprofessoren spielen in der literarischen Spitzenliga: Daniel Kehlmann, mehrfach ausgezeichnet, schaffte den internationalen Durchbruch mit seinen Büchern „Ich und Kaminski“ und „Die Vermessung der Welt“. Als Poetikdozent war er bereits in Mainz, Wiesbaden und Göttingen tätig. Der Brite Adam Thirlwell ist in Deutschland bislang wenig bekannt, machte sich in England aber bereits 2003 mit seinem ersten Roman „Politics“ einen Namen und gilt als hochbegabter Jung-Autor. Die Idee zum Seminar „Kollektive Autorschaft“ kam Kehlmann und Thirlwell, als sie planten, gemeinsam eine Erzählung zu schreiben. Das Seminar am Peter- Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft wird zum Versuchsraum..

„Wir haben keine Theorie, was genau kollektive Autorschaft bedeutet“, sagt Adam Thirlwell, „darum wollen wir das Konzept erkunden.“ Tatsächlich kann der Begriff kollektive Autorschaft vieles heißen: eine Sammlung von individuell verfassten Einheiten, ein wieder und wieder von verschiedenen Autoren umgeschriebener Text, wie man es etwa vom Online-Lexikon Wikipedia kennt, oder auch ein Werk, das von mehreren Verfassern im selben Raum, zur selben Zeit und auf demselben Computer entsteht.

Den Studierenden stehen aufregende Experimentierstunden bevor – sie sind Versuchsobjekte und Forscher zugleich. „Wir werden Kollektivität nicht nur untersuchen, sondern konkret in Gang setzen“, sagt Thirlwell. Die Kursteilnehmer werden gemeinsam literarische Versuche starten, von der Erstellung eines Magazins bis zur Konzeption einer Radiosendung. Experten aus Film, Kunst und Literatur unterstützen die Seminarteilnehmer und produzieren mit. Das Ziel: praktisch hergestellte kollektive Autorschaft. Die Gastprofessoren Kehlmann und Thirlwell sind selbst gespannt, was genau dabei herauskommt und wie gemeinschaftliches Schreiben funktionieren kann.

Der Ausgang ist ungewiss. Vielleicht stoßen die Kursteilnehmer auch an bislang unbekannte Grenzen der Literatur: Kann es beim Schreiben eine kollektive Identität geben? Kann literarisches Schreiben nicht schlichtweg nur von einer einzelnen Person getätigt werden?

Neben der Autorschaft spielt die Leserschaft eine essenzielle Rolle – ein weiterer philosophischer Exkurs, zu dem die Schriftsteller einladen. Wie nimmt der Leser einen Roman auf, der von mehreren Autoren geschrieben wurde? Wie lässt sich die Handschrift des einzelnen Schriftstellers innerhalb eines Autorenkollektivs herauslesen? Der Fokus und die Rolle des Lesers könnten also anders sein als bei einer herkömmlichen Erzählung: Der Leser selbst müsste aktiver werden, weil sich Produktions- und Rezeptionsebene annäherten. „Würde ein gemeinsam geschriebenes Buch sich vielleicht sogar unauthentisch anfühlen?“, fragt Thirlwell. Wäre die Authentizität eines literarischen Werks demnach an den einzelnen Autor gebunden? Den gemeinsamen Roman haben Daniel Kehlmann und Adam Thirlwell bisher noch nicht geschrieben. Bis dahin gibt Thirlwell den Schriftsteller nach der klassischen Vorstellung: „Ich schreibe isoliert, allein in meinem Arbeitszimmer.“

Die Studierenden könnten – und das gibt es nicht oft – zu literarischen Forschern der ersten Stunde werden, sagt Thirlwell. „Wenn das klappt, wird das Seminar zum Laboratorium für Experimente.“