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Das Schweigen der Geigen

Musikwissenschaftler der Freien Universität untersuchen den Übergang vom Stumm- zum Tonfilm

18.04.2011

Von Julia Kimmerle

Eigentlich war sich Peter Moormann sicher zu wissen, wer dieses Jahr in Hollywood den begehrten Academy-Award in der Kategorie „Beste Filmmusik“ bekommen würde. Für den Musikwissenschaftler an der Freien Universität Berlin waren Alexandre Desplat und sein Soundtrack zu „The King's Speech“ die klaren Oscar-Favoriten des Abends, schon viermal war der Franzose nominiert gewesen. Doch auch diesmal ging er leer aus, und die Trophäe erhielten Trent Reznor und Atticus Ross, die die Musik zu „The Social Network“ komponiert hatten: Finsterer Elektrosound konnte die Jury eher überzeugen als Desplats zurückhaltende Filmmusik, die um Kompositionen von Beethoven und Mozart ergänzt wurde.

Ohne Klang kein Kinoerlebnis – dieses Verhältnis zwischen Bild und Ton prägte auch die frühen Anfänge des Films. Am musikwissenschaftlichen Seminar der Freien Universität Berlin beschäftigen sich Forscher unter der Leitung von Professor Albrecht Riethmüller im Rahmen des „German Film Music Project“ mit der Geschichte der Filmmusik in Deutschland. Peter Moormann widmet sich derzeit vor allem der Filmmusik der 1920er und 1930er Jahre sowie dem Übergang vom Stumm- zum Tonfilm. Vieles, was der Kinobesucher im 21. Jahrhundert an Klangwelten aus Hollywood kennt, wurde damals erfunden. Im Gegensatz zu heutigen Multiplex-Kinos, die die Zuschauer über Dolby-Surround-Anlagen mit Musik und Geräuschen rundum beschallen, war die Musik im Film anfangs noch viel Handwerk. Schon die allererste Filmvorführung der Brüder Lumière 1895 in Paris wurde auf dem Klavier begleitet.

Auch in den bescheideneren Lichtspielhäusern auf dem Land und in Kleinstädten gab es zu den bewegten Bildern lange Zeit nur Klaviermusik. Je nach Größe des Theaters und des Publikums gab es jedoch auch Kammer- und Salonmusikensembles, die den Stummfilm auch zu einem Hör-Erlebnis machten. Im Ufa-Palast, dem damals größten Berliner Kino mit mehr als 2000 Plätzen, sorgte zum Beispiel ein 75-Mann-Orchester für musikalische Untermalung. „Wenn man diese Dimensionen sieht, kann man verstehen, warum die Einführung des Tonfilms auf so viele Widerstände stieß: Viele Orchestermusiker, die ausschließlich Filmmusik machten und dafür eingestellt worden waren, verloren ihre Arbeit“, sagt Peter Moormann. Bereits ein Jahr nach der Einführung des Tonfilms in Deutschland 1929 hatte mehr als die Hälfte der Kino-Musiker keine Anstellung mehr. Mit allen Mitteln kämpften sie gegen den Fortschritt des Tonfilms an. Auf Flugblättern wurden Kinogänger gewarnt: „Der Tonfilm ohne Beiprogramm mit lebenden Künstlern wirkt nervenzerrüttend! Nur Kino mit Bühnenschau und Orchester ist Entspannung und Erbauung!“ Auch aus ästhetischer Sicht wurde der Tonfilm kritisiert, jedoch ohne Erfolg. Denn die Einzigen, die sich von der Kritik kein bisschen beeindrucken ließen, waren die Zuschauer. „Das Publikum akzeptierte den Tonfilm sofort, damit war die Diskussion sehr schnell erledigt“, sagt Peter Moormann.

An der Filmmusik der frühen Kinozeit fasziniert ihn vor allem, mit welcher Intention Ton und Musik eingesetzt wurden und wie sich allmählich Hörgewohnheiten im Kino etablierten, die bis heute gelten. Ein weiterer Schwerpunkt seiner Arbeit sind Standardsituationen und die Genre-Abhängigkeit von Filmmusik. „Für eine Liebesszene im Film hat man sofort eine bestimmte Musik im Kopf, Geigen etwa“, erklärt Peter Moormann. „Oder eine Situation des Aufbruchs – auch hier gibt es bestimmte Module, die Komponisten immer wieder gerne anwenden. Zum Beispiel ein Rüstungsthema mit militärmusikalischen Komponenten – Trommeln, ein antreibendes Tempo, ein Militärorchester.“

Bei einer internationalen Konferenz zur Filmmusikforschung in Venedig wird er über die historischen Ursprünge solcher Konventionen sprechen. Lange hat er sich dafür mit dem letzten großen Filmkomponisten der Stummfilmzeit, Gottfried Huppertz, beschäftigt. Dieser hatte die Musik zu den Großproduktionen „Die Nibelungen“ und „Metropolis“ von Fritz Lang komponiert. „Obwohl Metropolis beim Publikum floppte, wurde die Musik schon damals sehr lobend erwähnt. Auch wenn man sie heute hört, kann man ihre Qualität nachvollziehen“, sagt Moormann. Der Kammersänger und Schauspieler Huppertz kam 1920 aus Coburg in die Metropole Berlin und begann dort seine Karriere beim Film zunächst als Komparse – im Krimi „Dr. Mabuse“ bekam er eine kleine Nebenrolle. Bereits zwei Jahre später durfte er für den Fritz-Lang-Film „Die Nibelungen“ die Filmmusik schreiben – einen der aufwendigsten und kommerziell erfolgreichsten Filme der 1920er Jahre. Ermöglicht wurde Huppertz dieser rasante Aufstieg durch seine guten Beziehungen zu Fritz Lang und seiner Frau, der Drehbuchautorin Thea von Harbou. Peter Moormann verbrachte mehrere Wochen in verschiedenen Archiven, in denen er nicht nur ein komplettes Werkverzeichnis von Huppertz fand, sondern auch ungeöffnete Briefe und andere bisher unbekannte Quellen.

„Schon 1919, also bereits vor seinem Umzug nach Berlin, hatte Huppertz Thea von Harbou ein Lied gewidmet“, sagt Peter Moormann. Aus seiner NSDAP-Akte wird klar, dass Huppertz schon vor der Gleichschaltung 1933 Parteimitglied war. Moormann vermutet, dass sich der Künstler dadurch einen Karrierevorteil erhoffte – ein Aspekt in Huppertz‘ Biografie, der bisher kaum untersucht wurde.

Bis zu seinem frühen Tod 1937 hatte Huppertz viele Werke komponiert, 47 davon mit einer eigenen Opuszahl, aber nur neun davon für Filme. Heute kennt man ihn fast ausschließlich durch seine Musik zu „Metropolis“ und den „Nibelungen“. Wie gut seine Arbeit insbesondere zu „Metropolis“ war, konnten Filmforscher vor zwei Jahren aufs Neue feststellen: Nach der spektakulären Entdeckung bis dahin vermisster Teile des Films in einem argentinischen Archiv konnte die ursprüngliche Version des Films nur mithilfe von Huppertz‘ Noten rekonstruiert werden. Mit mehr als tausend Anmerkungen markierte Huppertz in der Partitur, welche Musik zu welchen Bildern im Film gehörte. So notierte der Komponist etwa „Stampfende Kolben“ oder „Explosion“ in der Partitur – Anmerkungen, ohne die die Rekonstruktion des ursprünglichen Filmschnittes nicht gelungen wäre.

Auch wenn in Hollywood heute neben großen sinfonischen Werken wie von Huppertz vor allem minimale und reduzierte Musikuntermalungen den Trend bestimmen, ist sich Moormann sicher, dass die Filmmusik von damals auch heute noch ihre Berechtigung hat. Die Aufführung von Metropolis 2010, live begleitet vom Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, sorgte für einen ausverkauften Friedrichstadtpalast und brachte dem Sender arte für seine Verhältnisse hervorragende Zuschauerzahlen. Warum diese alte Vorführungspraxis das Kinopublikum auch heute noch emotional so berührt, kann Peter Moormann wissenschaftlich zwar nur schwer beschreiben. Fakt ist: Das Publikum ist heute so begeistert, wie es damals war. Und er als Wissenschaftler auch: „Durch das Zusammenwirken der Live-Musik mit dem stummen Bild wird eben wesentlich mehr transportiert. Und das besitzt wohl eine fast magische Anziehungskraft.“