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Der große Unterschied

Psychologin der Freien Universität beweist, dass die forensische Diagnose psychopathischer Frauen auf falschen Annahmen beruht

18.04.2011

Von Sven Lebort

Dass Frauen und Männer unterschiedlich sind, ist keine neue Erkenntnis. Doch im Strafvollzug kann es möglicherweise handfeste Folgen haben, wenn an beide der gleiche Maßstab angelegt wird. Zu diesem Schluss kommt jedenfalls Anja Lehmann. In ihrer Doktorarbeit, die sie am Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie der Freien Universität verfasste, untersuchte sie, ob ein klassisches Instrument der Diagnostik bei inhaftierten Frauen ebenso funktioniert wie bei Männern. Mithilfe der sogenannten Psychopathie-Checkliste (PCL) werden Straftäter beiderlei Geschlechts auf ihre Gefährlichkeit untersucht und Prognosen erstellt, auf deren Grundlage auch darüber entschieden wird, wer vorzeitig entlassen werden kann und wer besondere therapeutische Zuwendung erhält.

Als Psychopathen bezeichnet man Menschen, die schwer gestört sind; sie verletzen fortwährend gesellschaftliche Regeln, begehen häufig Straftaten und verfügen über gering ausgeprägte soziale Emotionen wie Mitgefühl oder Reue. Der Entwickler der Psychopathie-Checkliste, der US-amerikanische Psychiater Robert D. Hare, hat sie fast ausschließlich an männlichen Probanden entwickelt. Trotzdem wird die PCL – in den USA vorrangig, in Deutschland als eines von mehreren Instrumenten – auch für die Begutachtung von weiblichen Straftätern eingesetzt. In einigen amerikanischen Bundesstaaten entscheidet das Ergebnis dieses Tests sogar über die Anwendung der Todesstrafe.

Ob die PCL für Männer wie für Frauen aussagekräftige Ergebnisse hervorbringt, wollte Anja Lehmann gemeinsam mit sechs Kollegen klären. Das Team befragte in fünf Frauengefängnissen in Berlin und Brandenburg die Inhaftierten nicht nur mit der Checkliste, sondern auch anhand eines selbst entwickelten Fragebogens, der auf die Besonderheiten der weiblichen Aggression zielt. „In der Aggressionspsychologie geht man davon aus, dass Frauen im Gegensatz zu Männern weniger körperlich und auch weniger proaktiv aggressiv sind“, sagt Anja Lehmann, „Frauen sind eher relational und reaktiv aggressiv.“ Das heißt: Männer – insbesondere Kriminelle – suchen die körperliche Auseinandersetzung und setzen sie gezielt ein, um ihre Interessen durchzusetzen. Frauen hingegen sind in der Tendenz eher aggressiv, um auf eine Beeinträchtigung ihrer Interessen zu reagieren. Außerdem agieren sie bevorzugt auf der Beziehungsebene, etwa durch Intrigen, das Verbreiten von Gerüchten, gezieltes Ignorieren oder den Ausschluss unliebsamer Personen aus der Gemeinschaft.

Das ist lange bekannt, dennoch zielt die Psychopathie-Checkliste nur auf die klassisch-männliche Aggression ab und zieht für die Diagnose vor allem körperliche und proaktive Aggressionsmerkmale heran. Die Folge davon ist, dass Frauen seltener hohe Psychopathie-Werte erreichen – mit unterschiedlichen Folgen: Einerseits wird ihre Gefährlichkeit tendenziell niedriger eingeschätzt als sie tatsächlich ist, was ihnen oft positive Prognosen verschafft – obgleich sie für die Gesellschaft möglicherweise ein großes Risiko sind. Andererseits werden ihnen Therapien gar nicht, später oder in geringerem Umfang angeboten. „Dass es in dieser Frage eine Verzerrung gibt, ist in der forensischen Psychiatrie kaum bekannt und auf Kongressen selten ein Thema“, sagt Lehmann, die ihre Untersuchung in enger Kooperation mit dem Institut für Forensische Psychiatrie der medizinischen Fakultät Charité erarbeitete.

Ein empirischer Beleg stand daher bislang aus – auch deshalb, weil Frauen seltener inhaftiert sind als Männer. Nur rund fünf Prozent der Gefängnisinsassen sind weiblich, in Berlin und Brandenburg waren es zur Zeit der Erhebung 230 Frauen. Und es ist eine Klientel, die sich nicht gern befragen lässt: Nur 61 Frauen waren bereit, sich von den Forschern über mehrere Stunden interviewen zu lassen; die Fragen konfrontierten sie sehr detailliert mit ihren Taten, aber auch mit ihrer Kindheit und ihrer Familiengeschichte. Nur wenige Anreize standen Lehmann und ihren Kollegen zur Verfügung: ein eher symbolischer Obolus von einigen Euro für Telefonguthaben oder Zigaretten – und das große, doch vage Versprechen, dass die Ergebnisse dieser Grundlagenforschung in ferner Zukunft eine bessere Diagnostik und angemessene Haftbedingungen ermöglichen könnten.

„Das Gefängnis ist kein Ort, der Vertrauen fördert“, berichtet Anja Lehmann mit Blick auf die Schwierigkeiten mit den Inhaftierten. Viele Frauen würden sich dem Gespräch nur schwer öffnen, zudem gehöre chronisches Lügen zum Symptombild der Psychopathie-Störung. Durch Einblicke in die Akten der Inhaftierten konnten immerhin zentrale Aussagen überprüft werden. Die Ergebnisse der mühevoll erhobenen Daten belegen im Kern zweierlei: Zum einen müssen bei der Diagnostik von inhaftierten Frauen die Besonderheiten der weiblichen Aggression viel stärker berücksichtigt werden – schon allein, um angemessene Schlüsse ziehen zu können. Zum anderen dürften die an männlichen Probanden entwickelten Kategorien schon aus ethischen Gründen nicht unhinterfragt angewendet werden, weil die Konsequenzen völlig unklar sind. „Welche Merkmale für Frauen mit psychopathischen Störungen spezifisch sind, hinter dieser Frage steht noch ein großes Fragezeichen“, sagt Anja Lehmann. Ihre Ergebnisse könnten immerhin dazu beitragen, neue Forschungen anzuregen.